Menschenkenntnis Lehrbrief V. - Part 12
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

Da die bildende Kunst aus Materie, Geist und Leben bildet, und da sie dieses in guter Nachahmung der Werke der Natur tut, so muß es wahr sein, daß die Natur in ihren unerschöpflichen Form- und Farbengestalten den Geist zum Ausdruck durch den materiellen Stoff bringt.

Man wird meine weitere Annahme zugeben, daß da die Materie in ihrem Charakter die Ruhe und Beständigkeit verkörpert, so muß lediglich auch aus diesem Grunde der bildende Künstler der Materie gerecht werden und in seinen Werken selbst die Bewegung in würdiger Ruhe zum Ausdruck bringen.

Die alten Meister in Theben und Athen haben sich daher auf dem richtigen Wege befunden, wenn sie in ihren Bildwerken das möglichst Schöne zum Ausdruck brachten. Die Vollkommenheit in stofflicher Darstellung ist eben die Schönheit. Wenn sie diese Schönheit nicht ganz erreichten, so lag das in der aufgezwungenen Beschränkung, welche ihnen ihre damalige Staatsreligion bot. Zugleich schrieben aber Religion und Staatsgesetz mit vollem Recht den bildenden Künstlern wenigstens den Weg zum Schönen vor. Die Bildhauer, Maler, Architekten mußten in ihren Werken gewisse erkannte Schönheitsgesetze berücksichtigen, und es war bei Strafe verboten, Hässliches in Bildwerken zur Darstellung zu bringen. Dem Dichter blieb die Freiheit, nicht nur Schönes, sondern auch Häßliches zu behandeln.

Die Malerei kann daher nicht als Poesie und die Poesie nicht als Malerei bezeichnet werden, wie es irrtümlicherweise von manchem Künstler und Schriftsteller geschehen ist*).

*) Von den Engländer Spencer, dem Schweizer Bodmer, dem Franzosen Cayus.

Die Dichtkunst hat es eigentlich nicht mit Darstellung von Farben, Formen und Körpern zu tun, sondern mit den Bewegungen der Dinge und den Handlungen der Personen, und folglich muß sie mit der Zeit, mit dem „Nacheinander“ der Geschehnisse arbeiten.

Die Dichtkunst soll dabei zugleich die Wirkungen schildern, welche die Begebenheiten objektive und auch subjektiv in unsere Seele hervorrufen. Die Schilderung der Farben, Formen und Gestalten soll nur ergänzend zu der Schilderung der Geschehnisse hinzutreten.

Lessing ist es nun besonders gewesen, der den Nachweis erbrachte, daß die Dichtkunst umfangreicher, in ihrer Darstellung völlig frei, alles in den Bereich ihrer Betrachtung ziehen darf, Gutes und Schlechtes, Schönes und Häßliches; hingegen hat die bildende Kunst, insbesondere haben die Malerei und Plastik diesen Spielraum nicht, wollen sie nicht ihre große Aufgabe verfehlen. Sie, die bildende Kunst, soll daher nur das Maßvolle, das Würdige, das Schöne zum Ausdruck bringen und daher stets die Merkmale des Edlen und Vollkommenen in ihren Werken geben.

Laokoongruppe

Wie der Schöpfer der Laokoongruppe dieses so vortrefflich vermocht hat, das schildert Lessing meisterhaft. Im größten Schmerz, und zwar im doppelten, - des Körpers und der Seele – zeigt der große griechische Bildhauer nicht den Laokoon schreiend, gestikulierend, sondern das Leid abwehrend, den Schmerz und das Schicksal würdig tragend. In aller Bewegung der Gruppe ist Ruhe, Würde einer großen Seele, die dem vergänglichen Körper noch im höchsten Schmerze und im Untergange diesen Adel aufprägt.

Lessing versteht die große antike klassische Auffassung vom Körper und Seele, die der Schöpfer der Laokoongruppe uns durch die Darstellungsweise lehrt, und Lessing versteht auch die Meisterwerke der klassischen Dichter Homer, Sophokles usw., obwohl sich diese anderer Ausdrucksmittel bedienen als die Plastiker. Hat die Poesie größere Freiheit in der Auswahl der Mittel und Mitberücksichtigung alles Grauenvollen und Häßlichen, ohne an poetischer Wirkung etwas einzubüßen, so ist das bei der bildenden Kunst anders. Lessing schreibt: „Mit hoher Einsicht weiß Homer auch das Häßliche für die Poesie zu benützen, denn aus demselben gehen die gemischten Empfindungen des Lächerlichen und des Schrecklichen hervor.

Tafel VI Laokoon

Die Malerei dagegen kann nur als nachahmende Fertigkeit, nicht aber als schöne Kunst das Häßliche darstellen; dieses ist ihrer unwürdig, sie hat die höhere Aufgabe, sich auf das Edle zu konzentrieren. Das Ekelhafte ist von der Poesie mit Vorsicht, von der Malerei wohl gar nicht anzuwenden. Der Dichter lasse, wie Homer es tut, die Schönheit aus ihrer Wirkung erkennen. Die Malerei hat es mit Körpern, die Poesie mit Handlungen zu tun. Sie sind darauf durch ihre Mittel angewiesen, und die Malerei soll Handlungen nur durch Körper andeuten, die Poesie Körperliches nur durch Handlung darstellen.

Bei den Alten ist die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Kunst gewesen. Der Ausdruck einer so großen Seele*)geht weit über die Bildung der schönen Natur. Der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Griechenland hatte Künstler und Weltweise in einer Person.

*) Gemeint ist Laokoon.

Aus Lessings Laokoon lernen wir aber weiter: In dem Verhältnis, in welchem bildende und redende oder dichtende Kunst zueinander stehen, stehen auch Physiognomik und Mimik zueinander.

Winkelmann, Mengs, Lessing haben dieses oft, scheinbar ohne es sich bewusst zu werden, berührt. Das kam daher, weil es ihnen nur darum zu tun war, die Kunst als solche zu verstehen, nicht aber um die Psychologie zu enträtseln, auf welche sich alle bildende Kunst aufbaut, um die Physiognomik.  Eins aber haben Winkelmann, Mengs und Lessing gemeinsam bei ihren Kunststudien gefunden, nämlich, daß die bildende Kunst das Seiende zur Darstellung zu bringen hat, und daß die dichtende und redende Kunst nur das Werdende oder das Vergehende der Dinge zur Darstellung zu bringen vermag. Dieses erkannte vor allem Lessing an, und er hat mit seiner Anschauung, die er im Laokoon vertritt, recht behalten. Auf diesen Grundlagen suchte nun Lavater die Bedeutung der Grundlagen der bildenden Kunst, nämlich ihre Psychologie oder Physigonomik, zu ergründen, und er nahm die Motive nicht nur aus der Kunst selbst, wie Winkelmann, Mengs und Lessing es getan hatten, sondern er ging an die Studienquellen der Kunst, an die Naturobjekte selbst heran und suchte zu ergründen, wie die Natur selbst bildende Künstlerin ist und in ihren Gebilden Leben und Seele offenbart.

Es ist aber wichtig, zu wissen, daß jeder dieser vier großen Forscher eine besondere Originalarbeit für sich vollbracht hat.

Lavater faßte einmal den ganzen Menschen und alle seine äußeren Einzelteile ins Auge, ohne dabei auf viel mehr als zehn bestimmte Regeln zu kommen, welche ich aus seinen Werken mühsam zusammengesucht habe, und die ich im IV. Bande im 9. Abschnitte, brachte.

Lavater legte dann zweitens das ganze Schwergewicht auf die ruhenden und konstanten Formen. Aus diesen ruhenden Formen suchte er den wirklich wahren, natürlichen Geist, den Charakter, die Seele zu ergründen. Alle Gebärden, Gesten, Mienen faßte Lavater wohl ins Auge, aber er erkannte sie ganz richtig als das sekundäre Gebiet der Psychologie.

Lavater hat daher drittens die Handlungen des Menschen, trotzdem sie ihre Quelle in der Persönlichkeit des Handelnden haben, nicht als die zuverlässigen Wertmesser über den geistigen Innenwert eines Menschen anerkannt. Vielmehr hat er die Handlungen, Mienen und Gebärden gerade als die Mittel gefunden, wodurch die Menschen andere täuschen können und auch vielfach zu täuschen suchen, also irreführend werden können. Indem man die Wahrheit über das Wesen einer Person erforschen will, muß man mehr seine bleibenden Formen betrachten. Nur dann, wenn die Handlungen und die Mimik und Gebärden in Einklang mit der Physiognomie des Menschen stehen, geben sie nach Lavater das wahre Wesen desselben wieder. Das Ruhende, Bestimmte in Gestalt und Form von Körper, Gesicht, Schädel, Munde, Nase, Auge usw. ist nach Lavater das Seiende, alles Bewegliche aber das Werdende oder Vergehende – sich Verflüchtigende oder Vergängliche.

An diesen ganz zutreffenden Beobachtungen Lavaters mag jeder ersehen, dass dieser Mann nicht lediglich ein Schwärmer war, sondern ein außergewöhnlich scharfer Beobachter.

Lavaters Begeisterung für diese Wissenschaft, die allerdings oft bis zur Schwärmerei ging, wird uns verständlich erscheinen, sobald wir uns die Tatsache vor Augen führen, daß jeder Forscher, der auf ein neues Gebiet stößt, das ungeahnte Werte für die Menschheit aufschließt, voller Freude darüber mit ganzer Hingebung in Begeisterung geraten kann.

Walter Alispach (1908-1998)
(Quelle: DgM Nr. 37. Hrsg. Amandus Kupfer. 1936. Bild rechts: DgM Nr. 17, 1934. Hinzugefügt)
Anmerkung Timm: Für Huterkenner sei hier auf eine Person hingewiesen, die auch diesbezügliche Begeisterungsfähigkeit Lavaters für diese Wissenschaft nun in Kenntnisnahme der Huterschen Psycho-Physiognomik und Kallisophie, nämlich Walter Alispach. Walter Alispach (1908-1998) war nach 1933 für 65 Jahre der bedeutsamste Vertreter Huterscher Psycho-Physiognomik und Kallsiophie in der Schweiz.

Höchst beachtenswert ist es nun, daß gerade die bleibenden Körperformen, mit denen sich die Physiognomik beschäftigt, von diesen vier Forschern in Übereinstimmung mit den größten Meistern der bildenden Kunst aller Zeiten als das Wesentliche, als das Grundlegende in der natürlichen Offenbarung des Geistes der Lebewesen intuitiv erkannt worden sind.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die letzten Tafeln im vierten Bande dieses Werkes, welche Gesichtsstudien von Lavater wiedergeben, mit einigen Erklärungen zurückgenommen.

Auf Seite 138 sieht man, daß der Bildhauer Della Porta schon im späten Mittelalter in Rom vergleichende physiognomische Studien zwischen Tier- und Menschengesichtern gemacht hat. Mir sind zahlreiche Bildwerke und kunstgewerbliche Arbeiten zu Gesicht gekommen, deren Schöpfer unter diesem Della Portaschen Einfluß gestanden haben. Außerordentlich reiche Studienquellen findet man diesbezüglich in Hildesheim und in den Kirchen der Umgegend dieser besterhaltenen altdeutschen Kunststadt. Aus einer Kirche ist mir bekannt, wo an dem mit symbolischen und historischen Figuren reich geschmückten Altar auf der einen Seite Moses als der Gesetzgeber nach dem Alten Testament in kraftvoller männlicher Gestalt dargestellt ist. Der Formencharakter der Kraft ist durch widderartige Körperphysiognomie gegeben. Zur linken Seite steht Johannes als Verkörperung des Neuen Testaments mit einer Lammesphysiognomie im gesamten Körperbau. In beiden Figuren ist in den ruhenden konstanten Formen derart die natürlich-menschliche und tierischsymbolische Form harmonisch verschmolzen, daß ich sie als Meisterwerke ersten Ranges schätzen gelernt habe. Diese Kunstwerke sind uns ein Beweis dafür, dass jener hervorragende Meister gerade in den bleibenden Körperformen das Wesen der Kraft und Strenge, der Unschuld und Herzensgüte kennzeichnete, weil er sie in der Mimik und Pantomimik nicht genügend zum Ausdruck bringen konnte.

Das Geheimnis der konstanten Form war jenem vortrefflichen Plastiker schon bekannt, er bewies es, indem er aus demselben den verborgenen Geist zu offenbaren suchte und so den Weg der Nachahmung der Natur ging; denn die Natur gibt stets in der Form das Wesen halb geheimnisvoll, halb verschleiert kund, und nur den feineren keuschen Blicken des lichtdurchdringenden Geistes enthüllt sich das geheime Wesen der Form in aller Reinheit und Klarheit. Die zwölf Abbildungen von Della Porta zeigen, daß dieser Meister mit gleicher Geflissentlichkeit den konstanten Gesichtstypus sowohl als auch die bewegliche Mimik verschiedener Charakterköpfe mit verwandten Tiergesichtern in Einklang zu bringen suchte, um hieraus sofort den Charakter zum schnelleren Verständnis zu bringen.

Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1995. Update 24. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
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