Menschenkenntnis Lehrbrief V. - Part 13
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

Auf Seite 139 des vierten Bandes hat der Künstler, welcher diese vier berühmten Temperamente schuf, auch geglaubt, das Temperament in der konstanten Form zum Ausdruck bringen zu müssen. Gerade hieran sieht man, welche Bedeutung die Alten der konstanten Form in Bezug der Wesenserkennung beilegten. Hier hat nun der Künstler das Maß des Erlaubten überschritten, indem er zu stark die konstante Form betont hat, was ganz besonders beim Temperament nicht der Fall sein darf, da es, sobald es konstitutionell wird, auch krankhaft entartet. Das Temperament muß mehr im Flusse, also in der Mimik und Gestikulation zum Ausdruck gebracht werden. Sicher ist es aber, daß konstant gewordene Temperamente in primärer Form gar nicht anders als in diesem oder einem ähnlichen Formcharakter zum Ausdruck gebracht werden können. Der Künstler traf also auch hier mit seinem künstlerischen Gefühl das Richtige.

Diese Richtigkeit ist auch nach kranioskopischen, phrenologischen und anatomischen Erfahrungen bestätigt. Es hat z.B. das phlegmatische Temperament I den kürzesten, das gegenüberliegende cholerische II den längsten Schädel-durchmesser. In Wirklichkeit sind die Kurzschädel von schwacher, die Langschädel von starker Tatkraft. Dieses entspricht dem Temperamentscharakter und ist auch in beiden Nasen zum Ausdruck gebracht; in der großen cholerischen oder konvexen Nase gibt sich die große Tatkraft, in der kleinen phlegmatischen konkaven Nase die Tatschwäche zu erkennen.

Lavater: Temperamente
(Hinzugefügt)
Das sanguinische Temperament III hat einen stärkeren Kurzschädel, eine längere Nase und kräftigere Unterstirne als das phlegmatische, aber die Stirn ist fliehend, zurücktretend. Ganz entgegengesetzt ist im Melchancholiker IV, bei vordrängender Oberstirn, mäßig langem Schädel, kleiner feiner Nase, trübem Blick und ernstem eingefallenen Gesicht, bei unfroher Lippenhaltung auch der Charakter zu erkennen, zu dem dieses Temperament wird, sobald es dauernd Besitz von einem Menschen nimmt. Die Gesichter der Tafeln auf S.140 und 141 sind von Lavater selbst beschrieben. Auf Seite 142 hat Lavater Versuche angestellt, eine neue Gesichtswinkelmethode einzuführen. Die geringste Abweichung vom rechten Winkel scheint, wie es im Schattenprofil II dargestellt ist, die meiste Intelligenz zu verkörpern. Das Profil erinnert stark an Lessing. Etwas stumpfer ist der Winkel bei I, noch stumpfer bei III und am stumpfesten bei IV. Fraglos zeigt IV die stärkste Verdauungskraft, aber die geringste Geistesenergie von den vier Silhouetten.

Diese eigenartige Winkelmeßmethode hat mehr für sich, als man glaubt, ich werde sie später eingehender behandeln. Was sagen uns nun die vier Kopfumrisse auf Seite 143? In I haben wir fraglos einen Menschen von feinem Ehrgefühl, Liebe für Eleganz, Adel und Tatendrang vor uns, obwohl er uns die Rückseite von Kopf und Hals zeigt. II ist eine rohere Natur mit stärkerem Selbstgefühl, aber weniger Ehrliebe, ein Mensch, der nüchtern, hart und eigenwillig bis zur Grausamkeit werden kann. In III haben wir den konstruktiven Menschen, der die Lebensgüter ausbaut. Eine geistige und physische schöpferische Natur kann nur so oder ähnlich aussehen. Viele Baumeister, Handwerker und Kaufleute sah ich mit dieser Schädelform. In IV haben wir den nach Tat und Wert und Gewissen für andere unzuverlässigen Menschen, der alles für sich, aber nach bestem Wissen so gut als möglich ausnützt mit einer unbeugsamen Energie, der freilich auch das eine Gute in sich birgt, auch für seine Angehörige alle Vorteile zu wahren, wenn sie ihm nur gewähren, daß er den Löwenanteil hat. So deute ich diese Vollumrisse der Hinterschädelköpfe nach meinem physiognomischen Gefühl. Merkwürdigerweise stehen die phrenologischen Erfahrungen damit im Einklang. Wir sehen hieran, daß Lavater auch die Phrenologie streifte und lediglich auch aus der Schädelform den Charakter zu deuten versucht hat. Wie Lavater diese Umrisse deutete, sehe man in seinen Werken nach. Er war nicht so sicher in seinem Urteil, so wie man es bei mir gewöhnt ist. Das erklärt sich wohl daraus, daß ich nun schon 20 Jahre Berufsphysiognomiker, Lavater nur Gelegenheitsphysiognomiker war.

Außerdem habe ich weit tiefere psychologische und umfassendere Naturstudien getrieben als Lavater. Wie dumm sieht auf Seite 145 das Gesicht oben links in die Welt, wie fein das gegenüberliegende! Dieses hat Adel, geistige Energie, aber auch Verschmitztheit. In der zweiten Reihe ist links ein durch grausame Schläge von seinem eigenen Vater irrsinnig gewordener junger Mann dargestellt, gegenüber rechts der Jesusknabe im Empfindungsadel. Welche Heiligkeit des Empfindens gibt sich in diesem Gesichte kund, welche grausame hart Erfahrung spiegelt sich gegenüber. Leider musste auch ein Jesus noch Grausameres erdulden. Welcher Adel kommt unten links in dem vollen ganz harmonischen Gesicht zum Ausdruck, und welche Gemeinheit in den zwei gegenüberliegende von ein und derselben Person? Wer noch im Zweifel darüber ist, daß sich der Charakter nicht nur in der Mimik, sondern auch in dem konstanten Gesichtstypus bekundet, der mag hiermit überzeugt sein. Ich möchte nun doch noch in beistehender Tafel Seite 56 einige weitere physiognomische Charakterstudien aus Lavaters Fragmenten, von mir zusammengestellt, bekanntgeben. Ich lege dieser Tafel meinen Spruch zugrund: „Wo die Unwissenheit thront, die böse Energie recht klug regiert, da wird das Verbrechen wüten und alles Edle leiden.“ Dieses Motto wird zur Erklärung für diese Tafel ausreichen. Man sehe selbst, studiere und urteile. Ist nicht das Edle das Schöne, das Verbrecherische das Häßliche, das Dumme und kluge Böse das Abstoßende? Wann wird es endlich dahin kommen, daß das Weise thront, das edle Natürliche regiert, damit das Verbrechen schweigt und alles Gute lacht?

Gesichts- und Seelenstudien über die verkehrte Welt, wie sie ist, wo Menschenkenntnis fehlt

Tafel VII. Gesichts- und Seelenstudien.


Tafel VII. Gesichts- und Seelenstudien.


Tafel VII. Gesichts- und Seelenstudien.


Tafel VII. Gesichts- und Seelenstudien.
Wo die Unwissneheit thront, die böse Energie recht klug regiert, da wird das Verbrechen wüten und alles Edle leiden

Man gebe sich die Antwort selbst: Durch die richtige Rangordnung der Geister. Diese zu verwirklichen ist Aufgabe dieser Lehre und meiner Schüler. Ohne Psycho-Physiognomik keine Wahrheit in Ethik und Religion und keine höhere Gesellschafts- und Staatsform!


B. Die Phrenologie oder Kopfformenkunde

Wir sehen hieran wieder, daß die Gallsche Lehre bei aller bestrickenden Beweisführung nur das Gehirn sei ausschließlich aller Wesensausdruck des Geistes, mit einer gewissen Reserve und einer objektiv strengen Nachprüfung behandelt werden muß.

Diese Nachprüfung haben nun Spurzheim, Combe, Noël, Scheve in sachlicher Weise vollzogen, und sie kommen zu gleichen oder ähnlichen Ergebnissen wie Gall. Man muß den tiefen Ernst und ausdauernden Fleiß dieser Männer, mit dem sie zu Werke gingen, unbedingt schätzen, wenn man sich mit ihren persönlichen Arbeiten auch nur einige Zeit beschäftigt hat.

Die Phrenologie ist und bleibt eine wesentliche Ergänzung der von Lessing, Lavater und allen großen Bildwerkforschern in Natur und Kunst gefundenen allgemeinen Körperformenoffenbarungen, wie sie die Physiognomik zu deuten versucht.

Denn genau genommen ist die Phrenologie in ihren verschiedenen Elementen Gehirnanatomie, Gehirnphysiologie, Schädelformenlehre, endlich Kopfphysiognomik und damit Formen-Psycho-Physiologie.

Der Verdienst der Phrenologie ist aber unzweifelhaft die ganz einwandfreie Feststellung, daß die ver-schiedenen Organe oder Oberflächenteile des Gehirns für verschiedenen ganz bestimmte Grundrichtungen tätig sind. Wichtig ist hierbei, daß auch durch die Phrenologie genau so, wie durch die Physiognomik, das von mir gefundene psycho-physiognomische Grundgesetz bestätigt wird, nämlich, daß der Geist in der Peripherie der Körperformen am vollendetsten zum Ausdruck kommt.  Die Phrenologie lehrt: „In der Peripherie des Gehirns und des Schädels – läßt sich der Geist in seinen Grundanlagen erkennen.“ In den Jahren 1769 bis 1778 hatte Lavater sein weltberühmtes Werk „Physiognomische Fragmente“ herausgegeben, und an dieses setzte Gall die beste Kritik an, indem er die spezifischen seelischen Grundkräfte nicht in ganz bestimmten Körperorganen nachgewiesen fand, sondern alle Geisteskräfte im allgemeinen in allen Körperteilen, wenn auch differenziert.

Dieses Unvollkommene in Lavaters Werken hat Gall mit größtem Eifer nachzuholen und zu ergänzen gesucht durch den Nachweis, daß im Gehirn der Sitz der geistigen Betätigungen in bestimmten Hirnteilen ist, von wo der übrige Körper beeinflußt und geleitet wird. Gall kam von seiner Kritik zur selbstschöpferischen Tätigkeit, aber er ging zu weit, indem er nun dem Gehirn alle geistige Bedeutung, dem übrigen Körper sehr wenig oder gar keine beilegte. Er suchte mit seiner Phrenologie die Physiognomik zu stürzen, statt sie zu bereichern und zu ergänzen. Hierin liegt nun der Hauptfehler, an der die Phrenologie noch heute krankt, wodurch sie nicht nur bei den Anhängern der Physiognomik, sondern auch bei den meisten Anatomen und Physiologen und schließlich auch bei den großen Malern und Plastikern auf berechtigten Widerstand stieß. Gall wollte mit seiner Lehre weit mehr original erscheinen, als sie es verträgt, er wollte mit ihr unbedingt herrschend werden, und daher glaubte er die Ergebnisse der Körperformenkunde von Lessing und Lavater übersehen zu können. Dieses ist die starke moralische Schwäche bei ihm; eine Schwäche, die ich aber nicht allein bei diesem, sondern noch bei vielen anderen hervorragenden Forschern nachweisen werde. Selbst Lessing ist nicht ganz frei von Eifersucht auf Winkelmann gewesen, und Lavater hat wiederum Lessings Arbeiten zu viel verschwiegen, jedoch hat er Winkelmann ungeteilten Beifall gespendet.

Wiederum hat Lessing viel zu wenig Lavater öffentlich anerkannt, und doch wäre gerade er wohl am ehesten dazu verpflichtet gewesen, indem er das beste Verständnis seiner Zeit für Physiognomik besaß und diese in seiner Dramaturgie auch gut verwendet hat. Lessing ist überhaupt nur klassisch geworden, weil er durch die Physiognomik so vortrefflich psychologisch geschult wurde.

Im Jahre 1792 gab Gall seine erste Schrift heraus: „Philosophische und medizinische Untersuchung über Kunst und Natur im kranken und gesunden Zustande des Menschen“, und erst in den Jahren 1810 bis 1820 erschien sein bedeutendstes Werk, worin er die Phrenologie begründete*).

*) Man sieht hieraus, daß Gall sich zuerst in der Physiognomik versuchte; als er aber hier keine Lorbeeren finden konnte und gegen Lavaters Weltruhm unscheinbar blieb, da verließ er diese Lehre und holte sich in der Gehirntätigkeitsforschung seine Ehren.

Ich hielt es für sehr wichtig, einiges hier nochmals kurz zu sagen und die Daten der Herausgabe der Werke dieser sich ergänzenden Forscher genau anzugeben, um den Zusammenhang der Anregungen, die der eine vom anderen erhielt, und das, was er Positives leistete und worin er fehlte, jedermann scharf und deutlich vor Augen zu führen. Nur dadurch ersieht man den Zusammenhang der Entwicklung aller Vorarbeiten für das Nachfolgende.


Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1995. Update 24. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
Hauptwerk - Lehrbrief 5 (von 5)
 
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