Menschenkenntnis Lehrbrief III. - Part 26
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

FRANCÉ behauptet: Die Pflanze empfindet viel feiner als der Mensch; er beweist das damit, daß DARWIN die Drüsen des Sonnentaus reizte, indem er ein Stückchen Draht auf sie legte, das nur 1/78740 Gran wiegt. Ein Gran ist 0,33 Milligramm schwer, das ist also der fünfzehnhundertste Teil von einem Pfund, das noch einmal in annähernd achtzigtausend Teile zerlegt wird. Und solch ein ungefähr 230 tausendstel Gramm Gewicht reizt die Ranke einer empfindlichen Pflanze zur Krümmung. So fein empfindet in der Tat kein Mensch. Auf der Naturforscherversammlung vom Jahre 1904 hat Professor HABERLANDT nachgewiesen, daß bei zahlreichen Pflanzenblättern die obere Zellenschicht wie eine lichtkonzentrierende Linse wirkt, welche die Lichtstrahlen in der Mitte der Zellen sammelt, wodurch die Pflanze in ihrer Stellung zum Licht orientiert wird. 

Meiner Ansicht nach ist bei den Pflanzen zum Unterschied von den Tieren das Empfindungsvermögen mehr in die Peripheriezellenschichten gelagert, während bei der Tierwelt mehr zentrale Sinnesorgane vorhanden sind.

Demnach ist die Pflanze, da sie sich nicht örtlich mit ihrem ganzen Körper fortbewegt, so wie die höheren Tiere es vermögen, mit ihrem Bewegungsleben magnetischer, mit ihrem Empfindungsleben elektrischer Natur. Hingegen ist es bei der Tierwelt umgekehrt, dort ist das Bewegungsleben elektrischer und das Empfindungsleben magnetischer Natur. Diese magnetische Natur des Seelenlebens der Tiere verursacht meiner Ansicht nach das größere Gedächtnis derselben, das ich bei den Pflanzen nicht beobachtet habe.

Die Pflanze hat wohl eine Art unbewußtes, sozusagen Sinnenreizgedächtnis, aber nicht ein sich jederzeit bewußtes Gedächtnis.

Die Pflanze lebt also ein reines Sinnenleben, während das Tier mehr ein bewußtes Geistesleben in sich trägt. Seele haben aber beide, sowohl die Pflanze als das Tier und zwar individuelles Seelenleben. Mir scheint es, als wenn dieses feinere Seelenleben in der lebenden Natur gerade jetzt in unserer Zeitperiode zur stärkeren individuellen und feineren Entwicklung gebracht wird, und als wenn in früheren Zeitaltern das Seelenleben der Pflanzen und Tiere nicht so verfeinert gewesen sei. Unsere Erdennatur arbeitet also zur zeit eifriger denn je an der feineren seelischen Entwicklung alles Lebens. 

Die Mimose zittert wie ein fröstelnder Mensch vor Kälte, wenn man sie aus ihrer warmen Behausung, wo sie sich ruhig und wohl fühlt, der Kälte aussetzt. FRANCÉ erzählt, daß sie in einem Wagen I. Klasse nur ruhig ihre Blättchen hebt und senkt, während sie in den stärker stoßenden Wagen eines Eisenbahnzuges III. Klasse sich ununterbrochen bewegt, dann aber, in den Wagen I. Klasse zurückgebracht, sich wieder beruhigt. Sie gewöhnt sich an das weichere Wagenerschüttern, und ihre Bewegungen hören bald auf, sie fühlt sich wohl. Ob die Pflanzen Leid und Schmerz empfinden, diese Frage blieb bisher unbeantwortet, man wagt sie teilweise zu bejahen. Ich selbst machte auffallende Beobachtungen in dieser Beziehung, die ich in einigen Gedichten, welche ich im 10. Teile des Lehrstoffes dieses Lehrbriefes wiedergebe, zur poetischen Darstellung gebracht habe.

Ich könnte über das, was die Formen und Farben der Pflanzen und ihrer Blätter und Blüten, Früchte und Stämme und Wurzeln und Zweige zu uns sprechen, was sie uns sonst noch alles offenbaren, ein Buch für sich schreiben und illustrieren. Ich kann leider nicht in diesem Werke so ausführlich auf alles dieses eingehen und muß mich auf das Allernotwendigste beschränken. Sicher ist es aber, daß die Pflanzen eine solche Entwicklung und Formenverfeinerung nach und nach annahmen, so wie wir sie heute bewundern müssen. Ich komme im fünften Lehrbriefe noch einmal auf die psycho-physiognomische Seelensprache der Blumen und Pflanzen zurück.

Je feiner die Formen der Pflanze sind, desto feiner ist ihr Empfinden, genau sowie bei Tieren und Menschen.

Je gröber und breiter und härter die Formen sind, desto gröber, härter und roher ist das Empfinden. Die harten Holzgewächse dienen daher dem Menschen mit Recht zum technischen Gebrauche, die meisten Frucht- und Blattgewächse dienen Menschen und Tieren zur Nahrung, und die reinen Blumenpflanzen dienen zur Freude und Veredelung. 

Emil Nolde
(Hinzugefügt)

Alle Pflanzen aber, die nicht giftig sind, dienen Menschen und Tieren zur Freude, Erholung und Lebenserhaltung. Darum wachsen zwischen Wäldern, Gärten und Feldern die natürlichsten, gesündesten und schönsten Tiere und Menschen.

Ich möchte hier noch erklären, daß ich die Ansicht von FRANCÉ, die Pflanzen blühten nicht für die Menschen, nicht teile.



Das Seelenleben der Tiere

In der untersten Stufe des Lebens auf unserer Erde war, wie ich schon dargelegt habe, lebendes Eiweiß, es waren also Massen mit Gemeinsamkeitsgefühl ohne Individualempfinden.

Ich nehme an, daß die ganze Haut der Erde, also das, was heute sich als Gneis, Schiefer, Granit und sonstiges Urgestein darbietet, ursprünglich eine lebende Schlamm- und Schleimmasse gewesen ist, aus der sich nach und nach individuelle Lebensformen entwickelt haben.

Ich nehme auch ferner an, daß diese ersten individuellen Lebewesen nicht reine Pflanzen und reine Tiere waren, sondern beides vereint, halb Tier, halb Pflanze, halb mehr mit tierischem als pflanzlichem Charakter. Erst später, als sich fester Boden fand und bestimmte Scheidungen von reinerer Luft, Wasser und Schlamm und Land erfolgten, konnten sich Wasser-, Sumpf- und Erdpflanzen entwickeln.

Die ersten Pflanzen waren Algen, Moose, spargelartige und rohe schachtelhalmige, auch wohl schilfartige Sumpfpflanzen. (Siehe Pflanzentafel.) In der Urzeit lebte also der lebendige Urschleim von dem sich in der niederen Atmosphäre bilden den atmosphärischen Eiweiß. Mit der Teilung und Individualisierung trat der Kampf ums Dasein und aller Schmerz und alle Tragik in die Welt des Lebendigen. Die Urtiere fraßen sich gegenseitig auf, der Stärkere den Schwächeren. Aber dieser Kampf, diese Tragik mit der Liebe zum Leben führte eben zu immer höherer Entwicklung der einzelnen Arten. Denn nur der siegte im Leben, der sich durch ein aufgewecktes geistiges Wesen, mit körperlicher Gewandtheit gepaart, behaupten, wehren und ernähren konnte. Kurz der Kampf ums Dasein und Leid und Schmerz haben das individuelle Körper- und Seelenleben nach und nach zu immer höherer Entwicklung gebracht. 

Die ersten Urtiere bildeten um sich harte Krusten und Schalen, in denen sie geschützt waren; am oberen Ende, wo sie hinausspähen konnten, entwickelten sich Fühlhörner, Sinnesorgane, Glieder oder Fangorgane und die Aufnahmewerkzeuge für die eingefangene Nahrung. (Siehe Tafel Urtiere.) Im harten steinigen Schlammwasser trat zuerst der Panzerfisch auf und bildete sich der Schuppenfisch. Schildkröten, Krebse, Reptilien (Saurier) waren ganz der Zeit und dem Element, worin sie lebten, angepaßt. Die weiteren Glieder in der Tierwelt waren Säugetiere, Huf- und Zottentiere, Affen und Vögel, bis sich schließlich der Menschenaffe bildete und aus diesem heraus der Urmensch. Nahrungstrieb, Wehrtrieb, Ruhtrieb und Geschlechtstrieb waren die vier Haupttriebe im Leben der Tiere, die schließlich im Urmenschen zur höchsten Kraftentfaltung kamen. In allem leitete aber das Empfinden und das Steben nach Vervollkommnung jedes Lebewesen in seiner Art. Nach diesen Trieben entwickelten sich die Spezies, die Gattungen nach und nach aus, und in der weiteren Entwicklung wurde das Tier- wie auch das Pflanzenleben so ungeheuer reich und mannigfaltig in Form und Farbe.

Aber überall, bei jeder Pflanze, bei jedem Tiere offenbart sich in der Gestalt und Form die Art des Seelenlebens und der Grundcharakter. Pflanzenarten soll es 600.000 gegeben haben. Davon ist die Mehrzahl untergegangen und nur 240.000 Arten sind noch am Leben. In der Tierwelt sollen etwa 150.000 Arten noch am Leben sein. Zur Charakterisierung aller dieser Tierarten fehlt hier der Raum. Ich kann hier daher nur in wenigen Tafeln die jetzt lebenden Haupttypen psycho-physiognomisch erklären, da ich die zwei letzten Lehrbriefe dieses Werkes ausschließlich dem Menschen widmen muß. Daß zwischen den einzelnen Entwicklungsstadien große Katastrophen stattgefunden haben, ist eine Tatsache, die kein Geologe und Paläontologe leugnen kann. Die gewaltigen Eruptionen und Verschiebungen der Erdmassen, sowie die Tätigkeit der Vulkane, der Eisberge, der Wassermassen, die ganze Erdteile verschütteten, führten zum Untergang ungeheurer Massen organischen Lebens, so daß nur wenige in geschützteren Erdstellen am Leben blieben.

Ich nehme nun an, daß diese übrig gebliebenen Lebensindividuen sich nicht so ungeheuer mannigfaltig entwickelt hätten, ja, daß sie unbedingt ausgestorben wären, wenn die Erde nicht Neuschöpfungen nach jeder Katastrophe durch Urzeugungsvorgänge herbeigeführt hätte. Es ist anzunehmen, daß Lebewesen in dem Charakter der meisten übrig gebliebenen Arten, die den alten Arten selbstverständlich nach Gestalt und Form s ehr ähnlich waren, erzeugt worden sind. Dieses neue, frische, jungschöpferische Leben gab dem Alten neue Lebens- und Liebeslust und verhütete das Aussterben.

Diese Theorie, die ich hier aufstelle, läßt die Deszendenz-, sowie die Selektionslehre sonst bestehen, sie ergänzt diese nur. Ich nehme an, daß diese Urschöpfungen aus dem Geiste der Natur, aus dem Erdgeiste und ihrer Materie in Verbindung mit kosmischen Kräften, gemacht wurden. Mag der Jude an seinen Zebaoth, der Muslim an seinen Allah, der Naturforscher an seine Mechanik glauben, ich glaube an den Geist der Natur.

Bezüglich des Seelenlebens der Tiere habe ich noch viel schärfer als bei der Pflanzenwelt eine Mannigfaltigkeit im Ernährungs-, Wehr-, Geschlechts- und Kunstleben gefunden. Ja, moralische Triebe, Verstand-, Gemüt-, Gedächnis-, Ahnungs-, Hellfühl- und Fernfühlvermögen fand ich, daß ich ganze Bände darüber schreiben könnte. Die meisten Raubtiere, wie z.B. die Katzen, Hyänen, Löwen, Geier, Adler, Habichte usw. besitzen sogar eine fernwirkende Gedankenkraft und zwar in doppelter Art, einmal können verschiedene Raubtiere eine Ätherspannung durch ihre Lauer- und Lockgedanken bewirken, so daß ihre Opfer ihnen geradezu in den Rachen laufen; sie können aber in diesem Lauer zustande auch eine Phantasieerregung von etwas wunderbar Schönem und ungeahnt Gutem hervorrufen, wie das besonders manche Katzen bei sehr empfindlichen, schönen Mäusen vermögen. Solche Mäuse fühlen die Nähe der Katze und doch haben sie keine Ruhe, trotz der Gefahrwitterung, bis sie aus dem Loche schauen und hinausspazieren, weil sie eine wunderbare gemütliche Stimmung überkommen ist, der sie folgen. Die Katze schließt ihre Augen, rührt sich nicht, tut wonnig und lieb, und das Mäuschen findet so etwas an dem riesigen Katzenbären wundervoll interessant, so daß es sich weiter vorwagt; dann aber wandelt sich plötzlich die Seele der Katze aus der künstlich verstellten Engelsnatur zum Schreckenssatan um, sie hypnotisiert die Maus mit einem einzigen entsetzlichen Blicke und einem leichten Pfotenschlag, und die Maus ist gelähmt, sie steht jetzt unter dem Bann der Willenskraft der Katze. Das eben ist die andere Natur der Raubtiere. Die Maus kann nicht mehr fort aus dem Bereich ihres Mordungeheuers. Das weiß die Katze auch, und darum spielt sie erst noch mit der Maus, ehe sie sie frißt. Jede Maus würde bei ihrer fabelhaften Schnelligkeit jeder Katze davonlaufen können, wenn sie nahe Löcher hat, wenn ihre konzentrierte Willenskraft nicht durch die Katze gebrochen wäre und zwar durch deren Hypnose.

Mit vollstem Recht hat man daher von jeher das Hypnotisieren als unberechtigte böse Handlung aufgefaßt. Denn wozu, warum hypnotisieren die Menschen? Meistens doch darum, um Dummheiten zu machen oder Böses zu tun. Wieviel edler ist es, die Hypnose streng zu meiden und seinen Mitmenschen Gutes zu erweisen!*) Ich erlaube die Hypnose nur zur Schmerzlinderung- und Heilzwecken, sowie zur Erziehung verbrecherischer Menschen.

Die meisten Tiere besitzen eine rührende Liebe zu ihren Jungen. Die Kater machen davon eine Ausnahme, sie töten ihre Jungen, weil die Katze, solange sie sich als Mutter fühlt, ihre ganze Liebe auf ihre Kätzchen richtet und allem Liebeswerben des Katers unzugänglich bleibt. In der Mutterliebe ist die Katze ein Muster. Keine Katze läßt sich auch ohne weiteres verführen, sie wählt unter den Bewerbern selbst und läßt sich weder bereden, noch vergewaltigen, noch überrumpeln. In der Mutterliebe und in der Gattenwahl besitzt die Katze weit höhere moralische Eigenschaften als manche Menschenweiber.

Es gibt Tiere, z.B. Störche und Schwäne, welche nur in strengster treuester Einehe leben, und eine Störchin, die ihrem Gatten, mit dem sie in ehelicher Gemeinschaft lebt, die Ehe bricht, wird von Stund an von ihrem Gatten gemieden, derselbe meldet das allen Storchfamilien im meilenweiten Umkreise, und in wenigen Stunden sitzen ein Dutzend Storchfamilien zu Gericht auf der Dachfirst, wo die Störchin sich vergessen hatte, und ist sie da, oder kehrt sie vom Ausfluge heim, so wird sie nach kurzer Beratung von sämtlichen Störchen zu Tode geschlagen und aus dem Nest geworfen. Bekanntlich haben die Tiere ihre besondere Gebärdensprache, wodurch die sich gegenseitig verständigen.

Einen Gegensatz zu der ehelichen Treue der Störche bilden die Hasen. Dieselben sind in hohem Maße liederlich, als wenn sie manche unserer modernen Literaten gelesen hätten. Der männliche Hirsch hingegen lebt im Gegensatz zur Einehe des Storches mit einer Anzahl Hirschkühe zusammen. Diese sind ihm alle durchaus treu, keine wagt die Untreue; geschieht es doch, so ist jedesmal ein Duell zwischen dem rechtmäßigen Gatten und dem Eindringling die Folge; und der Stolz und das beleidigte Ehrgefühl des männlichen Hirsches ist derart entwickelt, daß der beleidigte Hirsch entweder selbst auf dem Kampfplatz sein Leben läßt, oder sein Gegner den begangenen Frevel mit dem Tode büßt. Der Beleidigte läuft nie davon und läßt seine Frauen nie im Stiche, der Hirsch ist ritterlich, mutig und treu und tritt mit seinem Leben ein für seine Hirschkühe und -kälber. Solche Eigenschaften sind nicht immer bei männlichen Menschen zu finden. 

Das Pferd besitzt teilweise bewunderswürdige Tugenden an Treue, Geduld, Aufopferung, Dankbarkeit usw. für seinen Herrn. Das Pferd ist hellfühlend und ahnt oft Gefahren oder Unheil, genau so wie der Hund, oft Stunden lang vorher.

Die Hunde haben den Menschen unendlich viel treue Dienste geleistet. Der Hund ist nächst dem Menschenaffen und dem Elefanten das klügste Tier. Die Beobachtungsgabe eines guten Hundes ist meist weit feiner als beim Menschen. Auch besitzen Hunde, Pferde und viele andere Tiere großes Denkvermögen, starkes Gedächtnis, vorzügliche Ortsauffindungsgabe usw., nur ist der Interessenbereich der Tiere durch ihre Körperanlage und Bestimmung eingeschränkt. Daher können sie wohl in einzelnen sinnlichen und moralischen Trieben und Verstandeskräften den Menschen weit übertreffen, in der Summe vieler sinnlicher und seelischer Triebe, Anlagen, Fähigkeiten und Talente steht aber der Durchschnittsmensch weit über allen Tieren. Auffallend ist die Kunst- und Schönheitsliebe vieler Tiere. Besonders ist das bei edlen Pferden, Singvögeln, Schwänen und Tauben der Fall. Pferde lieben l ebhafte Musik, Schwäne edlen, elegischen, zarten Gesang über alles.

Pferde und Schwäne sind für einen schönen Tonfall in der Sprache ungemein zugänglich und dankbar. 

Die Farbenliebe der Papageien und besonders mancher Käfer und fast aller Insekten ist bekannt. Die Bienen und Ameisen sind Meister in der Staatskunst, in Fleiß, Arbeit und Wirtschaftlichkeit. Der Hamster ist ein musterhafter Sparer, er sammelt bei Zeiten des Überflusses für die Zeiten der Not. 

Daß aber auch Tiere für Gedankenübertragungen von seitens eines Menschen zugänglich sind, davon überzeugte ich mich durch besonders angestellte Versuche.

Überrascht hat mich eine Beobachtung, welche ich noch während der Zeit, als dieses Werk in Arbeit war, gemacht habe. Ich ging eines Sonntags im Königlichen Schloßgarten in Stuttgart spazieren. Ich hatte höchst gelungene Versuche von Willensübertragungen bei einzelnen Enten und Schwänen gemacht, insofern, als ich mich an das Ufer der Parkteiche stellte und in Gedanken etwas dachte, was fast jedesmal kurze Zeit darauf besonders von den Schwänen ausgeführt wurde.*) Mindestens wurde jedesmal die Erregung bei ihnen sichtbar, daß sie diese oder jene Richtung während des Schwimmens im Teiche einschlagen sollten.

Ich ging darauf an ein anderes belebtes Ufer des Teiches, wo die schwarzen Schwäne kreisen. Die weißen und schwarzen Schwäne sind je in einem Teiche voneinander getrennt, weil sie sich gegenseitig durchaus nicht ausstehen können, wahrscheinlich wohl wegen der völlig entgegengesetzten Farben von Weiß und Schwarz. Die weißen Schwäne sind bekanntlich auf das sehr edle Weiß ihrer Federn ungemein stolz und glauben, die schwarzen Kollegen seien unreinlich, weshalb sie sie verfolgen, sobald sie auf ihren Teich kommen. Ich wandte mich nun der Beobachtung der Fische zu und gewahrte dicht vor mir am Ufer ein wunderbares Schauspiel, das ich noch nicht gesehen hatte und das mich daher doppelt überraschte und fesselte. Es spielten nämlich einmal 4, dann 7 und schließlich 10 Fische mit ein an der abwechselnd einen Reigentanz im Schwimmen mit solchem rhythmischen Gefühl und mit so wundervoller Formenschönheit, daß ich ganz entzückt wurde. Ich halte es für unmöglich, daß jemals Kunstschwimmer solche Vollendung im Kunstschwimmen erreichen könnten. Mich erinnerte dieses Schauspiel, das ich wohl annähernd eine halbe Stunde beobachtete, an den Kunsttanz des Ballets und an die schönen Kunstreiteraufführungen in unseren ersten Zirkussen. Dieses wunderschöne edle Zusammenspiel der lieben Tiere brachte mich geradezu in eine religiöse Stimmung. Denn das, was diese Tiere da übten, schien mir ihre Religion zu sein, ihr höchstes Liebes-, Gesellschafts- und Kunstleben aus freiem Wollen des einzelnen heraus. - Das eben scheint mir die wahre Religion zu sein, die die Natur will - denn es war wie eine heilige Feier, wie ein Gebet, das diese edlen Tiere sich selbst und dem Höchsten, dem großen Unbekannten, dem Naturgeist, darzubringen schienen. Es war ein Stück Vergöttlichung ihres Lebens.

Ich sah einmal, wie ich die Bergkirche bei Würzburg hinaufstieg, daß dort eine Reihe Bauersleute die vielen hundert Stufen in der Art hinaufstiegen, daß sie auf jeder Stufe stehen blieben und ein Vaterunser beteten. Ich fragte: "Was soll denn solche Beterei, ich verstehe das nicht?" Man sagte mir, die katholischen Bauersleute seien dort fromme Leute, sie stiegen oft Sonntags früh so betend zur Bergkirche hinauf, im Glauben, dadurch ihr Feld vor Unwetter und Hagelschlag zu bewahren, oder, wenn ihr Kalb oder eins ihrer Angehörigen krank sei, diesen dadurch zu helfen. Ich sagte: "Das ist eine ehrliche, sauer erworbene Arbeit, wenn`s nur hilft, wenn`s nun aber nicht hilft?" Nun, war die Antwort, das sei so ihre Religion. Ja, dachte ich, das nennen diese Menschen Religion. Ein Glück, daß jetzt Religionsfreiheit in Deutschland ist, somit kann ja jeder seine eigene Religion haben. Als ich die Feier der Kunstreligion der Fische im Stuttgarter Schlosspark gesehen hatte, da setzte ich mich in der Nähe auf eine Bank unter schattige Bäume und dachte an die Würzburger Bäuerlein und dachte an die Fische und dachte viel über Religion nach.

Ich kam zu dem Schlusse: die Tiere haben auch ihre Religion, sie haben ihre Kunst, ihre Liebe und ihre Moral, sie haben auch ihr Lebensglück. Alles ist proportional in der Natur, nur der Mensch macht es oft verkehrt und nicht so, wie es die Natur, seiner eigenen Natur entsprechend, will. Ja, das ist die Freiheit! Der freiere Mensch kann ja tun, was er will; sollte denn der Mensch nicht da hingebracht werden können, seine Freiheit so edel und so schön zu gebrauchen als  Fische und Vögel, und auch sowie das Wild im Walde? Ja, noch viel, viel schöner? -

Welches Leben, welche Kunst, welche Religion kann da der Mensch noch entfalten, wenn er nur erst die richtige Welt- und Menschenkenntnis hat. 

Ich ging eilig in mein Hotel zurück und setzte eifrig meine Arbeit fort, damit diese Lieferung bald fertig werde und die zwei nachfolgenden, worin ich den Körper und den Geist des Menschen und seine Bestimmung behandele, noch in diesem Jahre herauskommen. 

Denn diese Menschenkenntnis soll zur richtigen Lebenserkenntnis führen und zu einer noch höheren und glücklicheren Entfaltung von Beobachtung, Gedächtnis, Gedankenkraft, moralischer Kraft und religiöser Schönheit, als sie die Tiere haben. Ist erst die Lehre da, dann wird auch der gute Wille folgen.




ZEHNTER TEIL DES LEHRSTOFFES

Lieber Leser, liebe Leserin! Ich bin jetzt am Schlusse dieses dritten Teiles angekommen, ich könnte viele Fragen und Antworten wiederholen und noch manche Nebenfrage beantworten, doch da ich im fünften Teile dieses Werkes viele Hauptfragen und Antworten noch einmal darlege, so möchte ich diesen dritten Brief mit einigen Sprüchen und Dichtungen ausklingen lassen.

Ich hoffe, damit den geschätzten Studierenden einen doppelten Gewinn zu bereiten, einmal will ich sie das Poetische dieser Weltanschauung fühlen und genießen lassen, und zweitens will ich versuchen, auch die ethische und religiöse Seite derselben darzutun. Ich habe hier im Sinne der großen, neuen, kommenden Weltreligion, die alles in der Natur harmonisch umschließt und die alle Völker der Erde vereinen wird, gedacht, gebetet und empfunden. Wer folgen kann, der bete, denke oder empfinde mit.

Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1994. Update 26. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Hauptwerk Lehrbrief IV hier in „Original“

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
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