Enthüllen und Verhüllen des Körpers in Bibel, Mythos und Kunst - Part 1
 
In: Paragrana, Bd. 6, H. 1 (1997), S. 218–247.
Hartmut Böhme

Für Gernot Böhme zum 60. Geburtstag


Der Mensch

Der Mensch, so sagte man seit der Antike, ist zoon logon echon – das Lebewesen, das den Logos, die Sprache hat –, ein animal rationale: der Mensch ist das vernünftige Tier. Man drückte darin eine Art Doppelnatur aus: zum einen die Zugehörigkeit zur Natur, zum anderen die differentia specifica, dasjenige also, worin sich der Mensch von allen anderen Wesen unterscheiden solle, die Vernunft und die Sprache. Diese Besonderheit ist als etwas einzigartiges im Reich der Natur angesehen worden. Ja, der Logos gehöre der Natur gar nicht an, sondern er bezeichne am Menschen dasjenige, was über Natur hinausgeht, also ihr Transzendentes.


Geist, Körper und Seele

Diese Auffassung ließ sich mit der christlichen Anthropologie gut verbinden: die Seele ist das Jenseits des Körpers, unsterblich und unstofflich, des Göttlichen teilhaftig wie der Logos. Der Körper hingehen blüht auf, altert und vergeht. Das Fleisch teilt mithin die Natur der Pflanzen. Wie diese erfüllt der Körper den Wortsinn des griechischen Wortes für Natur: physis ist das aus sich heraus Aufblühende – aber eben auch unausweichlich Vergehende. Der Körper unterliegt der Immanenz des Fleisches, der Geist und die Seele bezeichnen die Transzendenz des Ego. Mit Recht hat man in dieser Auffassung eine dualistische Anthropologie ausgemacht (sie geht auf Platon zurück), die unsere polaren Begriffsfiguren beherrscht: von Geist (mens) und Körper (corpus ) oder von Seele (psyché, pneuma, anima) und Fleisch (sarx, viscera, caro, carnis.).


Dualismen

Auch in einer profanen Gesellschaft wie der unseren wird weiterhin in derartigen Dualismen gedacht. Man glaubt überwiegend zwar nicht mehr an die Unsterblichkeit der Seele und vermutlich auch nicht mehr an die Immaterialität des Bewußtseins.

Alchemie

Und doch ist man weiterhin Erbe von alten dualistischen Denkmustern, die in vormodernen Gesellschaften aus einem Abwehrmechanismus hervorgehen, nämlich der Abwehr des Todes. Um die Sterblichkeit zu überwinden, war man jedwedes begriffliche Problem hinzunehmen bereit – wie z.B. die vertrackte Unlösbarkeit des commercium mentis et corporis (Zusammenhang von Geist und Körper). Durchweg gilt: je radikaler der Schnitt zwischen Körper und Geist, umso rätselhafter das commercium; je mehr man Aussicht auf eine immaterielle Instanz oder ein transzendentes Sein (jenseits der Sterblichkeit) gewann, um so schemenhafter wurde die Einheit der Existenz. Je stärker die Seele in den Bann der Zeitlosigkeit geriet, umso rückhaltloser wurde das Fleisch der Zeitlichkeit unterworfen, zum Müll der schlackenlosen Reinheit des unsterblichen spiritus. Das ist begrifflich unvermeidlich.


Alchemie

Auf dieser Ebene begegnet eine Form des Verhüllens und Enthüllens, der ich hier nicht den ersten Rang einräumen will, obwohl sie mentalitätsgeschichtlich außerordentlich wichtig ist. In der Tradition dualistischer Anthropologie nämlich ist der Körper insgesamt eine Verhüllung, Hülle der Seele. Der Abstieg der Seele ins Fleisch ist gleichbedeutend mit deren Verdunkelung. Ihr Aufstieg aus dem Fleisch (etwa in neuplatonischer oder mystischen Ritualen) bedeutet das Freiwerden der Seele zu ihrer unverhüllten Gestalt. Die Trennung von Seele und Körper im Tod befreit die Seele aus ihrem verhüllenden Haus und läßt sie in jene Sphäre wechseln, in der alles offenbar ist: wo nichts Hülle ist und nichts Hüllen trägt. Neben vielen anderen haben Emmanuel Swedenborg und Johann Caspar Lavater 1 diesen Verkehr der hüllenlosen Seelen untereinander dargestellt und behauptet, daß die Seelen dabei in der Sprache der Engel kommunizieren. Was ist dies für eine Sprache? In ihr gibt es keine Differenz zwischen Intention und Ausdruck, zwischen Regung und Mitteilung, keine Differenz zwischen Zeichen und Bedeutung, kein Mißverstehen von Äußerungen; es gibt keine Differenz zwischen Sender und Empfänger und keine Notwendigkeit vermittelnder Übersetzung und zweifelhafter Entzifferung. Sondern alles ist zu allem unmittelbar, es gibt keine Larvierung, Täuschung, Verhüllung.

Alles ist luzide, ein jedes wird instantiell und unverstellt im anderen präsent. Diese Art Kommunikation, die eine Kommunion ist, scheint mit der Formel der Erlösung der ans Fleisch gefesselten Seele gemeint zu sein, die befreit zu Gott "von Angesicht zu Angesicht" (1. Kor. 13, 12) steht 2 . Es gibt kein Innen und Außen mehr, nicht die Zweiseitigkeit des Zeichenprozesses, nicht die dreischenklige Zeichenstruktur, nicht den Gegensatz von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen. Es gibt keine Heterogenität, sondern Homogenität, nicht Differenz, sondern Identität, nicht das prinzipiell Andere, sondern das immer Eine, nichts Fremdes, sondern nur Vertrautes.

Wir erkennen darin dasjenige, was in unserer Kultur 'der Himmel' heißt – es ist der Himmel als Zustand der Erlösung, der Erhöhung, der Befreiung. Wir erkennen darin aber auch, was die Bibel den 'Garten Eden', das Christentum überwiegend 'das Paradies' nennt. Und wir erkennen schließlich, daß mit diesen Sätzen verschiedene Formen des Utopischen beschrieben werden: die Liebe, das Mystische, das Kommunitäre in allen seinen historischen Erscheinungen. Dieses Utopische bildet im ästhetischen Sinn das Graziöse aus und im moralischen Sinn das Unschuldige.

Es ist sinnvoll, diesen Umweg zum Thema zu nehmen. Deutlich sollte die gewaltige kulturelle Schubkraft werden, die Sehnsucht nach Hüllenlosigkeit; oder umgekehrt gesagt: ein Leiden an der Verhüllung. Entnehmen wir aus der hüllenlosen "Sprache der Engel" dasjenige, wovon diese sich abstößt, so gewinnen wir ein ziemlich genaues Bild, was in der abendländischen Kultur als Los des Menschen verstanden und erlitten wurde. Dieses Los klingt pessimistisch und skeptisch:


Innen und Außen

Innen und Außen sind getrennt; zwischen Intention und Ausdruck, Regung und Mitteilung, Zeichen und Bedeutung schieben sich Medien, die das Verstehen ebenso vermitteln wie verzerren. Alles unterliegt dem Zwang zur Codierung, nichts aber ist eo ipso selbstverständlich oder selbstevident. Nicht die Einheit und das Gemeinsame ist das Gegebene, sondern die Vielheit und das Trennende. Das Fremde ist überwältigend. Das Graziöse ist die Ausnahme, das Schwere die Regel. Die Zeichen sind arbiträr und darum mühsam zu entziffern. Der Täuschungen sind viele: man täuscht fortwährend sich und andere. Man stößt nicht auf Personen, sondern Larven, nicht auf Wesen, sondern Hüllen. Sich zu zeigen ist ebenso gefährlich wie dasjenige, was zur Schau steht, zu verkennen. Nicht nur "Ich ist ein anderer" (A. Rimbaud), sondern auch das Du ist ein anderer. Die Welt ist unvertraut, labyrintisch, unsicher, ungewiß. Auch das Ich wird sich selbst unvertraut, labyrintisch, unsicher, ungewiß. Kurzum: wir sind nicht nackt, sondern verhüllt. Ja, alles ist verhüllt: "Die Natur liebt es, sich zu verbergen", sagt Heraklit im Tribut an die alte Auffassung, wonach das Essentielle der Welt sei, Verhüllung zu sein. Das Nackte ist die Ausnahme – wie die Wahrheit die Ausnahme ist im Meer der Täuschungen. Die Erde verbirgt ihre Schätze und Geheimnisse.


Individuum

Die Dinge sind opak. Individuum est ineffabile (das Individuum ist unerkennbar). Wir sind Insassen von Platons Höhle. Unsere Sinne sind blind. Unser Handeln ist nie rein, sondern immer theatral.

Unsere Sprache ist eine Maske, unser Gesicht eine Larve. Selbst Gott, der erscheinen will, muß sich verhüllen: in eine Wolke, ins Gewitter, in den Menschensohn. Im besten Fall sind wenigstens unsere Täuschungen und Verhüllungen gemeinsame. Die Wahrheit aber ist: jeder wohnt auf einem anderen Stern (wie schon Büchners Danton wußte).


Künstler Christo

Wir ahnen jetzt, warum ein Künstler sich Christo nennt, indem alles, was er tut, eine Verhüllung des offenbar Vorhandenen darstellt. In, von oder durch Christo (wie man den Ablativus auflösen mag) erfahren wir, daß die Dinge, indem er sie verhüllt und nach einiger Zeit wieder enthüllt, nichts anderes sind als dieses Zeigen und Nicht-Zeigen, dieses Manifest- und Verborgen-Sein.


Christo: „The Gates“ New York und Reichstag Berlin

Sie sind also, physiologisch gesprochen: Haut und semiotisch gesprochen: Zeichen. Gegenüber der christologischen Botschaft, die uns aus unserer Verhüllung zur Koinzidenz von Wesen und Erscheinung erlösen soll, ist das ästhetische Programm Christos der Kontrapunkt: nämlich das Wesen der Dinge als ihre Verhüllung zu erweisen. Die ästhetische Verhüllung wiederholt nur die essentielle Verhüllung der Dinge. Diese Hülle ist auch vorhanden, wo sie nicht da bzw. wieder entfernt ist: der Pont Neuf und der Reichstag tragen, nach Ende der Aktion Christos, ihre Nacktheit neu und anders: sie werden immer, so nackt sie sind, eine Hülle tragen (sofern wir es nicht vergessen). Christo wiederholt an Bauwerken, was das Wesen menschlicher Nacktheit ausmacht: daß es sie nämlich nicht gibt. Alles ist Verhüllung, Verhüllung der Verhüllung, Verhüllung der Verhüllung der Verhüllung ... Und das Enthüllen besteht nicht darin, auf einen inneren Kern, auf die nackte Wahrheit zu stoßen, sondern den universellen Mechanismus des Verhüllens zu begreifen, der auch dort herrscht, wo das Verhüllen so unsichtbar geworden ist wie bei des Kaisers neuen Kleidern: nur ein Kind, ein Tier oder ein Gott kann annehmen, dass der Körper des Königs nackt sein könnte, so unbekleidet er sein mag. Der Mann mit dem falschen Namen Christo inszeniert also ein gegenchristologisches Programm, indem er durch das bloß Wiederholende und Selbstreferentielle der Verhüllung grundlegende kulturelle, soziale und semiotische Prozesse zur Anschauung bringt: also ästhetisiert – also verkörpert: und mithin nicht auf einen Himmel der Bedeutungen verweist, sondern auf die Erde eines endlosen Spiels holt, Spiel der Zeichen, Spiel der Ver- und Enthüllungen.

Damit werde ich mich im Fortgang beschäftigen. Es ginge auch anders, wenn man dem Menschen auf die Spur kommen will, und daran will ich wenigstens erinnern. Ich hatte begonnen mit der differentia specifica des Logos oder der Seele. Das hat sich nun verschoben: der Mensch ist das Tier, das sich verhüllt, diesen Mechanismus der Verhüllung begreift und darin sein Wesen erleidet. Wir kennen auch andere, gut begründete und teilweise ehrwürdige Ausgangspunkte anthropologischer Reflexion: der Mensch ist das Tier, das lachen und weinen kann. Oder: der Mensch ist das Tier, das zu lügen vermag. Oder: der Mensch ist das Tier, das nicht andere tötet, sondern Artgenossen und sich selbst mordet. Oder, was man seit Platon und vor allem in der Stoa sagt: der Mensch ist das Tier, das aufrecht geht, eine freie Hand hat und den Blick zum Himmel richtet, d.h. der (technischen) "Sorge um sich" (M. Foucault) und der Erkenntnis fähig ist. In diesen 'Grundsätzen' stecken viel Wahrheiten, von denen ich aber zeigen möchte, daß ihr symbolischer Kern die Nacktheit und das Verhüllen ist.


Garten Eden

Im Garten Eden waren Adam und Eva nackt, ohne es zu wissen. Durchaus identifiziert Adam die aus seinem Fleisch erschaffene Eva: "Das endlich ist Bein von meinem Bein/ und Fleisch von meinem Fleisch" (Gen 3,23), sagt er angesichts Evas.

        
Albrecht Dürer - Adam und Eva. Museo del Prado. Madrid 1507

Er sieht an ihr, daß sie nicht eines jener gefiederten, bepelzten, schuppigen, hornigen Wesen ist, denen er ihren Namen gab und dadurch von sich unterschied. 

Eben diese Namenstaufe – von der sprachtheologisch die Idee der adamitischen Sprache ausgeht – löst den Wunsch nach einem Gleichen aus, das so ist, wie er ist. Als solches Gleichartiges nimmt er Eva wahr, nicht aber in ihrer Unterschiedenheit von ihm; sie ist seinesgleichen, doch nicht eine andere, d.h. er realisiert nicht ihre und seine Geschlechtlichkeit: sie sind nackt, ohne es zu wissen. Mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis, das – wie die Schlange verspricht – "wie Gott" (Gen 3,5: eritis sicut dii) werden lassen und klug machen soll, beginnt ein Prozeß, an dessen Anfang die Scham und an dessen Ende der Mord und die unaufhebbare Zerrissenheit des Bewußtseins stehen.3 Adam und Eva "gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren." 4 Dies ist die Scham. In der Scham soll das verhüllt werden, dessen man sich schämt: sie machen sich einen Schurz. Und Scham löst den Wunsch aus, sich selbst in toto zu verbergen: Adam und Eva verbergen sich vor Gott "unter den Bäumen des Gartens". In der Scham ängstigt man sich vor dem Angeblicktwerden, insbesondere durch eine höhere Instanz. Gott stellt Adam und Eva zur Rede: nämlich in Frage: die Frage ist derjenige Sprachmechanismus, der den Befragten sich zu identifizieren zwingt, d.h. sich zu enthüllen, womöglich in dem, dessen man sich schämt. Darum können Fragen Pein sein und sind es hier, in der Bibel, zuerst. In ihren Antworten erweisen Adam und Eva, daß sie schon jetzt jenseits der paradiesischen Namenssprache stehen, in der Wort und Wesen sich im Namen begegnen. Sie verschieben mittels der Sprache ihr Vergehen von einem auf den anderen: Adam auf Eva, Eva auf die Schlange. Das heißt: sie verhüllen nicht nur Teile des Körpers, die ihre Geschlechtlichkeit markieren; sie verbergen nicht nur den ganzen Körper, um überhaupt ungesehen zu sein; sondern sie benutzen die Sprache als Verhüllung. In dieser Weise von der Scham imprägniert, wird niemals mehr ein Hörer sicher sein können, dass das Gesagte auch meint, was es sagt. Dreifaches Dunkel versuchen Adam und Eva um sich zu schlagen wie einen ummantelnden Schutz: traumatisch und beschämend erfahren sie ihr Identifiziertwerden, dem sie nicht entgehen können. Das heißt: wir können nicht Menschen werden, ohne uns zu identifizieren und zu verkörpern, und wir können dies nur unter den Bedingungen der Scham. Die Scham wird in dieser bald dreitausend Jahre alten Erzählung als etwas so Fundamentales angesehen, daß von ihr der Zwiespalt ausgeht, wonach alles, was erscheint, ein Verhüllen dessen sein kann, was sich zurückzieht und versteckt. Nichts als nackt zu sein – ohne Schurz, ohne Versteck, ohne sprachliche Ausflucht –, ist furchtbar. Es ist der Ursprung des Leidens – eben die Vertreibung aus dem Paradies schamloser Nacktheit und unschuldiger Namen. Es ist des Lebens Fluch, Arbeit und Schmerz, Feindschaft und Verlust des Friedens. Dahinein werde sie verstoßen, nicht ohne daß Gott den armseligen und beschämten Nackten zuvor Kleidung fertigt, wie um ihnen zu zeigen, daß dies ihr Los sein wird: Verhüllung. "Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit." (Gen 3,21) 5

Sogleich folgt die nächste Beschämung. Hirte und Bauer, die sie sind, bringen die Söhne Abel und Kain dem Gott ihr Opfer. Sie erweisen darin ihr fortgeschrittenes Bewußtsein, indem sie nämlich im Mechanismus des pars pro toto, auf dem das Opfer beruht, sich des symbolischen Prozesse kundig zeigen. Die Selbstsorge, zu der sie verurteilt sind, verstehen sie nicht als Sorge eines Selbst um sich, sondern als Gabe eines anderen, nämlich Gottes, dem sie im Opfer symbolisch zurückerstatten, was ihm sie verdanken, und dem sie darin zugleich ihre Nicht-Autonomie mitteilen. Wer identifiziert ist, aber nicht autonom, bleibt beschämbar. Das erweist sich an Kain, dem von Gott ohne Grund bedeutet wird, daß er nicht angeschaut und angenommen wird 6. Heiße Scham überläuft Kain – er findet sich in einer grundlosen Verwerfung vor, also ganz preisgegeben, ganz nackt. Als solchen spricht Gott ihn an; vollständig durchschaut er ihn, er sagt ihm, daß er den Dämon in sich trage, dessen er Herr werden solle. Seine entsetzliche Beschämung wendet Kain um in etwas, was leichter zu fallen scheint als die absolute Entblößung, in der er steht: die heftige Wut und der Mord 7. In den Mord verhüllt er seine schreckliche Scham.

Schuld verhüllt Scham. 8 Das Stigma, mit dem Gott ihn daraufhin schlägt, bezeichnet ihn und schützt ihn zugleich. In endloser Flucht, heimatlos auf der Erde, ist Kain nichts als das Zeichen seiner Tat: er, der angesichts seiner grundlosen Verwerfung durch Gott seiner Scham nicht entkommen konnte, es sei denn im Mord, wird auf ewig darin fixiert: woraus Kain fliehen wollte, der Scham, wird in eine Flucht verwandelt, auf daß alle ihn eben darin erkennen. Daß Kain nicht sterben kann, ist die größere Strafe eines bösen Gottes –; denn in der tiefsten Scham, wie die Sprache sagt, wünscht man im Erdboden zu versinken. Auf der Erde aber in aller Augen "rastlos und ruhelos" (Gen 4,14) herumzuirren, stellt die schrecklichste aller Qualen dar. Dies ist die preisgegebenste aller Nacktheiten – die Hölle auf Erden. Ihr gegenüber steht jene Nacktheit, die sich der Liebe vertraut – und Liebe heißt jenseits von Eden: zu hoffen, daß man nicht verraten wird. Der erste Liebesverrat aber war der Verrat Gottes an dem sich ihm anvertrauenden Kain.

Daß Gott ein womöglich böser oder zorniger Gott ist (wie so viele alte Götter der Religionen) und das Leiden unverdient, dies macht die Schutzbedürftigkeit der ausgesetzten nackten Menschen so heillos. Auf der Linie des Christentums war darum ein neues Opfer notwendig: das Selbstopfer Jesu, dessen Körper am Kreuz alle Nacktheit symbolisch zusammenzieht, um gerade dadurch einen Schutz, einen Mantel um die beschämten, nackten und leidenden Menschenkinder zu legen. Jesus, so wird versprochen, soll als Christus das Kleid einer Menschheit sein, die ihre Nacktheit nur durch immer tiefer sich verstrickende Abwehrmechanismen zu verbergen sucht; durch die L ü g e , als dem großen Verhüllungsmechanismus der Sprache, und durch die Gewalt, in die sich die eigene Schwäche, Angst und Nacktheit verbirgt.

In der Paradies-Geschichte wird eine zweite Genesis erzählt, die nämlich des Menschen. Der Mensch wird erst jenseits von Eden. Was heißt dies? Erzählt wird die Geschichte traumatischer Bewußtwerdung: was ist es, Mensch zu sein? Es heißt zuerst, sich entblößt zu erfahren und damit angewiesen zu sein auf Verhüllung.

Nichts als nackt zu sein, ist entweder bewußtlose Unschuld (dies ist nicht menschlich) oder endlose Preisgabe wie die Kains (dies ist die äußerste Grenze des Mensch-Seins). Auf dieser Skala spielt das gesellschaftliche Leben sein Spiel von Verhüllen und Enthüllen.

Auf der Linie biblischer Anthropologie, welche mir die abgründigste zu sein scheint, wird das Verhüllen und Enthüllen als der kulturelle Grundmechanismus dargestellt. Er wird verbunden mit der physischen Nacktheit unseres Körpers, der zu seiner Grenze die Haut hat und die Haut als die Fläche seiner Scham. Jede Kleidung, jedes Haus, im weiteren Sinn: jede Institution und besonders die Sprache substituieren die Haut; sie sind zweite Haut, behalten jedoch ihre Doppelform: Schutz und Grenze wie auch Fläche der Beschämung und Preisgabe zu sein. Aus der Nacktheit also gehen die Mechanismen des Verhüllens und Enthüllens hervor. Das Enthüllen ist darum immer so prekär, weil die primäre Angewiesenheit das Verhüllen ist. 9 

Hüllenlos, aber dennoch Leib zu sein, hieße sterben. Selbst das Stigma, wie an Kain zu sehen war, ist eine Hülle, die ihn am Leben hält. Ohne dieses Stigma müßte er sterben. Die Scham also, die uns unserer Nacktheit innewerden läßt, ist im tiefsten eine Ankündigung des Todes: d.i. absoluter Hüllenlosigkeit. Wir verstehen nun, warum die Hüllenlosigkeit, welche die christliche Religion erlösend in Aussicht stellt, nur um den Preis des Todes zu haben ist. Leben aber heißt, sich schämen zu müssen (man weiß nicht warum) und ununterbrochen, also lebenslang: an Verhüllungen und immer besseren Verhüllungen zu arbeiten. Fällt die letzte Hülle, so ist der Tod da. In unserer Kultur wird als besonderes Glück gepriesen, wenn die Enthüllung, welche die Liebe wie eine Gnade gewährt, mit dem Tod zusammenfällt: im Liebestod. Dessen kleine Nachahmung wird in jedem Orgasmus vorsichtig, ganz selten auch ekstatisch, heran gewunken: so als könne es auf Erden doch Momente schamlosen Glücks und hüllenloser Preisgabe geben.

Auf dem körperlichen Dasein beruhen die wichtigsten kulturellen Mechanismen. Die Nacktheit und die Scham sind es, welche das Verhüllen und Enthüllen hervorbringen und auf allen kulturellen Ebenen generieren. Wir bewohnen viele Kleider – und durch sie haben wir neben den Momenten des Schutzes und der augenöffnender Ansicht nackter Wahrheit auch viele Formen von Verhüllen und Enthüllen, von Täuschung und Maskierung, von Lüge und Gewalt, von Hintergehen und Verbergen, von Aufdeckung und Freilegung gelernt. Wir bewohnen viele Kleider – Sprache, Sitten, Häuser, Institutionen, Techniken, Wissensformen, Weltbilder. Könnte es sein, daß die Scham und ihre Abwehr nicht nur einen zentralen Antrieb kultureller Anstrengungen, sondern auch wesentliche Funktionen gesellschaftlicher Einrichtungen erklären? Wissen wir darüber vielleicht auch deswegen so wenig, weil in einer Schamkultur die Scham zwar funktionieren soll, nicht aber das Sprechen darüber: denn wir schämen uns der Scham?


Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Und wie steht es mit der Sprache? Mit den Zeichen? Könnte es sein, daß der leibliche Mechanismus von Verhüllen und Enthüllen sich der Sprache aufgeprägt hat? Ist die Sprache in ihrer Doppelheit, zu entbergen und zu verbergen, ist das Zeichen, das zwischen der Maskierung und dem Bedeuten des Sachverhalts sein Spiel treibt, – sind also Sprache und Zeichen kultivierte Kleider unserer Nacktheit wie zugleich ihrer Enthüllung? Sind jene sprachtheologischen Traditionen, die bis hin zu Walter Benjamin sich auf die adamitische Namensprache berufen 10, in ihrem emphatischen Versuch, im Wort das Wesen erscheinen zu lassen, nicht dem aussichtslosen Wunsch geschuldet, das Paradies wenigstens in der Sprache wiederherzustellen – jene wunderbare Nacktheit, in der wir schmerz- und anstrengungslos ins commercium der Wörter eingetaucht sind wie Adam in den allgemeinen Frieden der Wesen? – Ich will diese Fragen nicht beantworten, sondern statt dessen das Feld wechseln: von der Bibel zum antiken Mythos. Wir lernen dabei eine andere Form von Enthüllen und Verhüllen kennen.



Erstellt 12. August 2006. Update 25. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
mit besonderer Rücksicht auf Albrecht Dürers "Selbstbildnis als Akt"                                  
 
Enthüllen
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm