Menschenkenntnis Lehrbrief V. - Part 16
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

Um auf Piderit zurückzukommen, so rate ich aus guten Gründen, sein Werk mit Vorsicht zu studieren, es klärt nach einigen Richtungen mimische Fragen gut, hingegen ist es in physiognomischer und phrenologischer Hinsicht größtenteils irreführend. Möchte man nun Piderit als Mitarbeiter in dieser Wissenschaft missen? Ich sage: Auf dem Gebiete der Mimik nicht. Um so mehr fühle ich mich aber nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, einige seiner besten Ideen über Mimik mit in der Reihe der großen Forschungsergebnisse aufzuführen.

Auf Seite 64 ist eine Studientafel gebracht worden. Die Illustrationen sind so angeordnet, daß man ein ungefähr aufklärendes Urteil erhält. Dieses wird allgemein mit dem meinigen dahin lauten, daß dieser Forscher das Beste über den Mund und die Mundzüge gebracht hat. Die Behandlung der Augen und Stirnfalten ist wohl weniger bedeutend zu nennen. Als auffallenden Mangel empfindet man es jedoch, daß P. nur psychische und physiologische Merkzeichen im Gesichte gefunden hat. Die typischen Züge der verschiedenen Krankheiten sind weder schriftstellerisch noch bildlich behandelt. Auch sind nicht die typischen Merkzeichen von Tugend und Laster, von Dummheit, Irrsinn oder Geistesgröße, von Kraft und Schwäche, niederer und höherer Rasse, Temperament und Konstitution und dergleichen entsprechend erläuternd dargelegt, und doch prägt sich alles dieses im Gesicht aus.


Analytische Studien über Physiognomik und Mimik im Sinne Piderits
zeichnerisch dargestellt von Carl Huter
I. Stirnfalten

1                  Tafel X. Physiognomik und Mimik nach Piderit                13
1. Vertikale, 2. horizontale Stirnfalten, 13. die Marseillaise,

II. Augen
                        
3   Tafel X. Physiognomik und Mimik nach Piderit   4
3. aufmerksamer, 4. müder Blick,
III. Mund

5              6              7                    8a                       8b                               9a                 9b  
5. der süße, 6. der bittere und 7. der prüfende, 8a und 8b der verbissene, 9a und 9b der verachtende Mundzug,

Tafel X. Physiognomik und Mimik nach Piderit         
10. der lächelnde, 11. der lachende, 12. der weinende Mund.

Tiefschmerzlich bleibt es aber, daß dieser Autor den Großen vor ihm, Lavater und Gall, solch ungerechte Behandlung in seinem Werke zuteil werden läßt. Was Lavater schon mehr brachte als Piderit, nämlich größeres Anschauungsmaterial zu Charakterstudien, bringe ich noch einmal auf Tafel Seite 56. Wohl lehrte Lavater nicht so scharfsinnig physiologisch die Mimik wie Piderit, um so besser aber rein anschaulich vergleichend. Dem Lavater fehlte also nur die physiologisch-anatomische Schulung, sowie die pädagogische Gabe. Ich habe daher die Gesichter auf Tafel 56 aus Lavaters Werken zusammengesucht und so zusammengestellt, wie sie pädagogisch richtig hätten schon von Lavater behandelt werden müssen.

Auf Seite 65 stelle ich nun in verschiedenen Bildern den großen Pideritschen Fehlurteilen richtige entgegen. Hat Tizian in seinem Zinsgroschen das Gute in dem würdig-edlen Jesus und das Böse in dem fragenden Pharisäer nicht weit mehr in dem festen Gesichtstypus, als in der Mimik als gegensätzliche Charaktere gezeichnet?

Beweiskräftige Bilder, daß die konstante Körperform, die Physiognomie, an wissenschaftlichem Wert über Mimik steht

Tizian, „Der Zinsgroschen mit Jesus und dem fragenden Pharisäer“
(Farbbild hinzugefügt)

Jenes harte Pharisäergesicht mit der großen, hartgebogenen Nase ist eben typisch für jenen Charakter. Ich denke, Meister Tizian kann uns darin ein besserer Lehrmeister sein, als es Piderit zu sein glaubt. Ferner hat Leonardo da Vinci*) Jesus und rechts neben Jesus den Johannes mit hoher, edler Stirn und den Judas daneben mit sehr niedriger Stirn dargestellt. Warum? Weil dieser Meister in der niedrigen Kopf- und Stirnhöhe den niedrigen Charakter, in der hohen, edelgewölbten Kopfbildung den edlen Charakter in der Natur studiert und in seinem Meisterwerke zur Darstellung gebracht hat.

*) Siehe  Leonardo da Vinci „Das Abendmahl“.

Leonardo da Vincis Abendmahl

Tafel V. Leonardo da Vinci, Abendmahl 
Das bedeutendste Meisterwerk der Malerei
in Hinsicht psycho-physiognomischen Könnens und Darstellens seelischer Affekte und Charakteranlagen in Körper- und Gesichtsform, in Mimik, Haltung und Bewegung der einzelnen Personen

Wie nehmen sich dagegen die Pideritschen Lehrsätze aus, Seite 140 seines Werkes: „In den nachfolgenden Kapiteln werde ich nun nachzuweisen suchen, daß die festen Formen der Schädel und Gesichtsknochen für die psychologische Beurteilung eines Menschen vollständig unbrauchbar und wertlos sind ... „ Die höchst beleidigenden Ausführungen, die sich Piderit über den edlen Lavater erlaubt, muß man sich schämen, hier wiederzugeben. Ich kann das hier nur als eine Handlungsweise verzeichnen, die auf den Kenner nicht abneigend gegen Lavater, sondern gegen Piderit selbst wirkt. 

Tafel X. Physiognomik und Mimik nach Piderit   14
14. Friedrich der Große nach einem Friedrichstaler.

Die Art und Weise, wie er Gall, die Phrenologie und die Campersche Gesichtswinkelllehre bekämpft, ersieht man daran, daß er ein ganz ungetreues, elendes Profilbild von Friedrich dem Großen, geradezu ein Schafgesicht, bringt, das mit Nr. 14, wiedergegeben ist, und an welches er auf Seite 162 seines Werkes die Behauptung knüpft: „Außerdem genügt ein Blick auf das Profil Friedrich des Großen, Fig. 58, um die Unhaltbarkeit der Camperschen Hypothese augenscheinlich zu machen. Nun, das wird wohl niemandem augenscheinlich, wohl aber dieses Mittel Piderits, die großen Lehren Galls und Camper in falschem Lichte darzustellen, denn man sehe sich rechtsseitig daneben das wirkliche naturgetreue Bild Friedrich des Großen an.

Beweiskräftige Bilder, daß die konstante Körperform, die Physiognomie, an wissenschaftlichem Wert über Mimik steht

Wahres, naturgetreues Bild von Friedrich der Große nach Gebauer

Aus den Bildern überzeuge man sich, daß in den konstanten Schädel- und Gesichtsknochen sich mehr als in der Mimik der Grundcharakter, die Persönlichkeit, ausprägt.

Die Phrenologie stellt P. verächtlich als eine Erfindung statt als eine Entdeckung hin. Alle diese unsachlichen, traurigen Erscheinungen in Piderits Werk wirken auf den Fernstehenden höchst verwirrend und somit schädigend. Was P. durch einige wenige gute Forschungen bot, hat er durch üble Nachrede über andere Forscher wieder verdorben, und trotzdem muß man, scheidet man das Unangenehme von dem Brauchbaren, einiges von Piderits mimischen Forschungen anerkennen.

Soeben lese ich in dem „Schwäbischen Merkur“, daß Geheimrat Prof. Schwalbe aus Straßburg auf dem deutschen Anthropologen-Kongreß am 6. August 1906 in Görlitz besser über Gall urteilte als P., indem er die hochwertvollen Arbeiten Galls in ehrender und anerkennender Weise in einem Vortrage behandelt hat. Es tut mir wohl, diesen Gerechtigkeitsakt hier verzeichnen zu können. Wie kleinlich Piderit arbeitete, um mit einigen Ausführungen über Mimik die gewaltigen Wahrheiten der konstanten Formen der Physiognomik zu stürzen, und wie sehr er darin fehlgegangen ist, wird in dem folgenden Abschnitte an den großen Arbeiten von Schadow, Carus, Rietschel und Zeising ersehen werden können.

Betreffs der Illustrationstafel, welche Piderits Ideen zum Teil veranschaulichen soll, möchte ich noch bemerken, daß in Piderits Originalwerk alle Kopf-, Gesichts-, Nasen-, Stirn- und Haarformen schablonenhaft übereinstimmend gezeichnet sind und nur die Stirnfalten, Augen und Mundzüge verschieden in allen Schablonenköpfen veranschaulicht wurden. P. meint, dieses sei wissenschaftlicher, da das in die Stirn hängende Haar bei dummen Menschen, das aufrichtige bei erregten unwissenschaftliches Beiwerk sei. Das ist wieder ein schwerer Irrtum, denn genau so, wie in Auge, Mund und Stirnfaltung die stark stupide oder stark geistig rege Gemütsart sich ausprägt, so prägt sich das auch am Haar aus, was alle bildenden Künstler und Physiologen, besonders auch Darwin, nachgewiesen haben. In der Mimik selbst bringt Piderit absolut nichts Neues, denn die wenigen dargestellten Stirn-, Augen-, und Mundzüge sind bei Lavater schon mehr als zwanzigfach öfter und besser dargestellt worden. Nur die Deutungen Piderits über wenige Züge sind wissenschaftlich und, wenn auch nicht einwandfrei, so doch interessant und beachtenswert. 

Unverständlich bleibt es, daß er sich dagegen verwahrt, ein Werk über Charakterologie geschrieben zu haben, dann aber doch wieder seine Ansicht über Mimik als die wertvollsten Studien zur Menschenkunde empfiehlt. Ja, wozu dann überhaupt einen Federstrich über Physiognomik und Mimik noch verlieren, wenn es uns nicht in der Seelenkunde und Charakterlesekunst weiter bringt? Was nützt alle vornehme Tuerei ohne praktische Menschenkenntnis? Die Physiognomik und Mimik werden gerade durch solche physiologisch unsichere Perspektiven zur wissenschaftlichen Spielerei herabgedrückt. Unverständlich bleibt es auch, daß P. die Ansicht arg bekämpft, daß in der hohen Stirn ein höherer Geist steckt als in einer niederen, und daß er gerade die niederen Stirnen als die geistreicheren hinstellt. Das ist total unwissenschaftlich, wogegen alle Erfahrung spricht. Die ganze Entwicklungslehre zeigt, dass gerade an die Entwicklung des Großhirns die Entwicklung der menschlichen Art gebunden ist, der Mensch ist nach der Entwicklungslehre das hervorragendste Großhirnwesen. Alle Menschen, die nicht mehr Großhirn als die höchsten Affen haben, sind Idioten. Gerade durch das große und reich entfaltete Gehirn und die infolgedessen höher entfalteten Stirn-, Scheitel- und Hinterhauptorgane ist dem Menschen das höhere geistige charakteristische Gepräge gegeben. Das Hirn wächst und entfaltet sich von unten nach oben aus dem Rückenmark empor, also je höher der Kopf und die Stirn sind, desto höher ist das geistige Leben bei einem Menschen. Das sind Wahrheiten, die selbst die ärgsten irrenden Gegner der Phrenologie, wie Hirtl, Bock und Virchow, anerkannt haben. Es wird dieses in den Schlußabschnitten dieses Bandes noch eingehen bewiesen werden.


FÜNTER TEIL DES LEHRSTOFFES
Die Körperproportionslehre der bildenden Künstler als Maßeinheiten von Gesundheit und Schönheit

A. Carl Huters Auffassung vom Schönheitsideal, von Gesundheit, Krankheit und Heilkunst
B. Gesundheits- und Schönheitslehre der Künstler, Anthropologen und Kunstforscher Schadow, Rietschel, Carus`Symbolik und Zeisings Gesetz vom goldenen Schnitt. B.A. Goulds wissenschaftliche Anthropometrie.
C. Kranheitszeichenlehre oder Diagnose von der ältesten bis zur jüngsten Zeit
Von Hippokrates bis Hufeland, Professor Dr. med. Baumgärtner und seine Krankenphysiognomik. Louis Kuhnes Körperbelastungslehre und Halsformkunde. Dr. med. Péczelys Augenstern-Beobachtungen bei Verletzungen und Krankheiten. Des Lüneburgschen Heidebauern und Schäfers Ast Kunst, Krankheiten aus den Haarform-veränderungen zu erkennen. Heinrich Bossard und seine physiognomische Kunst.


A. Die Körperporportionslehre oder das künstlerische Erfassen der menschlichen Gestalt nach Harmonie und Schönheit, worauf Carl Huter sein Gesundheits- und Schönheitsideal und seine neue Heillehre aufbaute
Der Körper des Menschen ist das hohe Lied der schaffenden Natur, und je edler und harmonischer die menschliche Gestalt ist, desto gesünder und glücklicher ist der Lebensgeist, der diesen Körper bewohnt.

Schon der einfache Mensch ist die Krone der Erdenschöpfung, der starke Mensch ist der Herr der Erde, der schöne Mensch aber ist der Halbgott der Erde.

Im schönen Menschen spiegelt sich das höhere unsichtbare Gottheitsideal einer unbekannten himmlischen Welt wider.

So erfaßt der wahre Künstler und Höhenmensch die menschliche Gestalt. Der Künstler ist in dieser seiner Anschauung der scharfsinnigste Naturforscher, der größte Philosoph und der heiligste Religionsfühler und als schöpferischer Gestalter des Schönen auch der beste Ethiker, Lehrer, Priester und Volkserzieher. Es würde hier zu weit führen, auf die Normen und Regeln einzugehen, welche schon die weisen Schönheitsgestalter des Altertums gefunden haben. Ich möchte auch nicht die großartige Natur- und Kunstkenntnis eines Leonardo da Vinci, Michelangelo oder Raffael hier eingehend zergliedern, denn ich würde darüber ein Werk besonders schreiben können, das allein den Umfang dieses Bandes überschreiten möchte.

Der Apollo von Belvedere
(Hinzugefügt)

Nach Winkelmann ist die Statue des Apollo das höchste Ideal der göttlichmenschlichen Schönheit.

Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind. Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebauet, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nöthig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. Über die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und sein Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend, und spielet mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder. Hier ist nichts Sterbliches, noch was die Menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein Himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strohm ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllet.
Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejenige, die ich wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos und in die Lycischen Hayne, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehrte: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen und zu beschreiben. (Text nach Johann Joachim Winkelmann hinzugefügt. Quelle: www.forum-rom.de/Winckelmann)

Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1995. Update 24. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.http://www.forum-rom.deshapeimage_2_link_0
Hauptwerk - Lehrbrief 5 (von 5)
 
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