Menschenkenntnis Lehrbrief V. - Part 5
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

Zweiter physiologischer Beweis

Eine Tierart hat Fakultäten und Eigenschaften, welche einer anderen fehlen, dies wäre unerklärlich, wenn nicht jede besondere Verrichtung des Gehirns einem besonderen Teile des Gehirns eigen wäre.

Wenn ich meine Leser frage: „Woher kommt es, daß gewisse Arten Tiere des Geruches oder eines anderen Sinnes beraubt sind, während sie alle anderen haben?“ werden sie dies sehr begreiflich finden und sagen, daß die Verrichtungen jedes Sinnes eigene Apparate fordert, die jenen Arten fehlen können.

Wenn sie jedoch annehmen, daß die Verrichtungen aller Sinne durch dasselbe Organ geschehen, so würden sie das Fehlen eines oder mehrerer Sinne unerklärbar finden. Man wende dies auf die Kräfte an, die von dem Gehirn abhängig sind, und man wird finden, daß es kaum eine Tierart gibt, die nicht gewisse Eigenschaften und Fakultäten hätte, die andere Arten fehlen. Der schwerfällige Biber und das muntere Eichhörnchen sind beide bewundernswürdige Baukünstler, der Hund, der gelehrige, verständige und unermüdliche Begleiter des Jägers, hat keine Fähigkeit zum Bauen. Das in Gefechten unerschrockene Roß, der Stier, so mächtig und bei den Kühen und seinen Nebenbuhlern so furchtbar, hat nicht den blutgierigen Instinkt des Wiesels und des Falken, der Sperling und die Turteltaube haben nicht den harmonischen Gesang der Nachtigall. Das Schaf lebt in Herden, die Krähe, die Biene und die Ameise in Republiken; der Fuchs, der Adler und die Elster ertragen höchstens einige Wochen lang das häusliche Leben mit ihren Jungen.

Die Schwalbe, der Storch, der Fuchs usw. leben in einer strengen Einweibigkeit. Der der Anhänglichkeit so fähige Hund, der Hengst, der Hirsch befriedigen ihre Begierden mit dem ersten Weibchen ihrer Art, das sie antreffen, und so zeigt uns die Naturgeschichte bei jeder Tierart andere Triebe, andere Kunstfertigkeiten, andere Gaben.

Sollten wir nicht notwendig daraus schließen, daß die verschiedenen Triebe, Fähigkeiten usw. dieser Tiere von verschiedenen Teilen des Gehirns hervorgebracht werden? Wäre das Gehirn ein einziges und allgemeines Organ für alle diese Instinkte, Triebe, Gaben, so müßte jedes Tier sie alle ohne Unterschied besitzen. Man würde selbst nicht begreifen, warum der Mensch vermittels seiner Organisation sich über alle Tiere durch höhere Geisteskräfte erhebt und eine besondere Klasse ausmacht. Setzt man aber voraus, daß jede Grundfakultät ebenso wie jeder besondere Sinn von einem besonderen Teil des Gehirns abhängig sei, so begreift man nicht allein, daß ein Tier gewisse Teile fehlen können, die der Mensch allein besitzt.

Dies wird bei den einzelnen Organen nachgewiesen werden. Für jetzt vergleiche man das Gehirn des Affen mit dem des Menschen, welcher Unterschied findet hinsichtlich der Masse des Gehirns, der Höhe und Konvexität der Stirne statt!

Man vergleiche das Gehirn und den Schädel der fleischfressenden Säugetiere und Vögel mit dem der pflanzenfressenden. Die fleischfressenden Tiere haben eine beträchtliche und konvexe Gehirnmasse, die sich in dem Schädel durch eine Erhöhung äußert, die bei den meisten Arten über dem äußeren Gehörgange liegt. Die pflanzenfressenden haben diese Konvexität nicht und daher auch nicht den entsprechenden Teil des Gehirns. Diese Bemerkung kann hinreichen, um die Leser auf die Spur zu bringen. Weiter unten werde ich beweisen, daß den verschiedenen Tieren, welchen gewisse Teile des Gehirns fehlen, auch alle davon abhängenden Fähigkeiten abgehen, woraus man notwendig schließen muß, daß die Äußerung jeder Grundeigenschaft von irgendeinem besonderen Teil des Gehirns abhängig ist.


Dritter physiologischer Beweis

Die Gaben und Eigenschaften, die man bei allen Individuen derselben Art findet, bestehen bei den verschiedenen Individuen in sehr verschiedenem Grade, was sich nur durch den verschiedenen Grad der Tätigkeit der verschiedenen Organe dieser Eigenschaften erklären läßt.

Alle Hunde haben im allgemeinen dieselben Eigenschaften und Fakultäten, indessen finden z.B. bei dem Fleischerhund, der großen Dogge, dem Wind-, Hühnerhund, ja selbst bei Hunden derselben Art große Verschiedenheiten statt. Mancher Hund ist unaufmerksam, ein anderer verirrt sich beständig, ein dritter ist streit- und mordsüchtig.

Das gleiche findet bei anderen Tieren statt. Warum, kann man ferner fragen, unterscheidet sich das Gehirn und der Schädel der Männer vom höheren und ausgebreiteten Geiste so auffallend von der Gestalt des Gehirns und des Schädels der Leute von beschränktem und gemeinem Geist, der Einfältigen? Warum ist der Kopf eines großen Mathematikers wesentlich in der Gestalt verschieden von dem eines großen Feldherrn, großen Staatsmannes oder großen Dichters?

Keine dieser Erscheinungen läßt sich aus der Annahme, daß ein gleichartige Gehirnmasse alle Triebe und Gaben hervorbringt, erklären, wohl aber durch die, daß jeder Teil des Gehirn seine besonderen Verrichtungen habe.


Vierter physiologischer Beweis

Bei denselben Individuen finden sich verschiedene ursprüngliche Gaben in einem sehr verschiedenen Grade, was nicht sein könnte, wenn jede Ureigenschaft nicht von einem besonderen Organe abhängig wäre. Auch hier stütze ich mich auf die Ähnlichkeit mit den äußeren Sinnen. Hätten die Anatomen nicht bewiesen, daß jeder Sinn von dem anderen verschieden und getrennt ist, so würde man es daraus geschlossen haben, daß bei demselben Tiere oder Menschen ein oder mehrere Teile schwach sein können, während die anderen sehr stark sind. Eben dies muß man von den geistigen Kräften schließen. Wäre das ganze Gehirn eine einzige gleichartige Masse, müssten dann nicht alle Individuen alle Eigenschaften und Fakultäten in demselben Grade besitzen? Wie könnte, wenn das Gehirn ein einziges Organ und daher die organische Ursache für jede dieser Äußerung dieselbe wäre, die Verschiedenheit der angeborenen Anlagen bei den Tieren und Menschen möglich sein? Wenn jedoch verschiedene Abteilungen des Gehirns mit einer verschiedenen Fähigkeit übereinstimmen, so hängt alles von dem verschiedenen Grade der Entwicklung ab, die gewisse Abteilungen oder gewisse besondere Teile des Gehirns erlangt haben, und von dem verschiedenen Grade der Tätigkeit, womit diese Abteilungen oder Teile begabt sind.


Fünfter physiologischer Beweis

Die wesentlich verschiedenen Tätigkeiten des Gehirns geschehen weder bei den Tieren noch bei den Menschen gleichzeitig; einige finden beständig statt, während andere je nach dem Alter des Subjekts oder nach der Jahreszeit sich äußern oder aufhören, sich zu äußern, Erscheinungen, die nicht stattfinden könnten, wenn alle Tätigkeiten von einem einzigen Organe abhängig wären.

Auch hier befolgt die Natur einen gleichförmigen Gang bei allen organisierten Wesen. Bei den Pflanzen entwickeln sich die Teile zu verschiedenen Zeiten, je nachdem sie eine verschiedene Bestimmung zu erfüllen haben. Diese Epochen sind manchmal mehrere Jahre voneinander entfernt.

Eine Menge Kerfen, Amphibien, erleiden verschiedene Verwandlungen, ehe sie zu ihrer Reife gelangen, und ehe die Organe, deren sie in ihrem vollendeten Zustande bedürfen, ihre gänzliche Entwicklung erhalten.

Selbst bei den vollkommensten Tierarten geschieht die Entwicklung der Werkzeuge der Ernährung, der Sekretion und Exkretion, des Säfteumlaufs usw. zu verschiedenen Zeiten, je nach den verschiedenen Arten; einige ihrer Teile erleiden unmittelbar nach der Geburt Veränderungen und hören auf, ihre anfängliche Bestimmung zu erfüllen.

Ebenso ist es mit den verschiedenen Nervensystemen; anfangs sind sie für das vegetative Leben am vollständigsten entwickelt und am tätigsten. Hierauf folgt das Rückenmark, dessen verschiedene Nervenpaare sich von selbst entwickeln und in verschiedenen voneinander ziemlich entfernten Epochen in Tätigkeit treten.

Die Nerven der Sinne folgen ebenso demselben Gesetze. Gewöhnlich entwickeln sich der Geschmacks- und der Geruchsnerv am ersten, der Gehör und Sehnerv entwickelt sich sowohl bei den Tieren, welche blind und taub geboren werden, als bei den Kindern weit später. Die graue Substanz, in welcher die Nervenfasern entspringen, ist in größerer Menge vorhanden zur Zeit des vegetativen Lebens, als zu der, wo die Nervensysteme schon alle ihre Verrichtungen erfüllen.

Bei den meisten Tieren sind die Instinkte, deren Sitz im Gehirn ist, der Einwirkung der Jahreszeiten unterworfen. Der Instinkt zu singen, sich zu begatten, die Fähigkeit, Wohnungen zu bauen, Vorräte aufzuspeichern usw. ist bald in Tätigkeit, bald untätig.

Manche Tiere, die ihrem heimatlichen Klima entrissen oder in Gefangenschaft gehalten werden oder zu einer von der, welche ihnen die Natur angewiesen hat, verschiedenen Nahrung gezwungen sind, zeigen gewisse Triebe entweder gar nicht oder in einem höheren Grade, während andere Triebe bei denselben Individuen keine Veränderung erleiden.

Gleiche Erscheinungen bietet der Mensch dar. Bei dem neugeborenen Kinde ist die graue Substanz in größerer Menge vorhanden als die weiße Nervensubstanz, und das ganze Gehirn bietet den Anblick einer schmutzig weißen, rötlichen Masse dar. Die Nervenfäserchen werden anfangs zuerst in den hinteren und mittleren Lappen und später auch in dem vorderen sichtbar. Bereits nach einigen Monaten, und wenn das Kind die Eindrücke der äußeren Welt empfangen, behalten und verarbeiten soll, entwickeln sich die vorderen oberen Teile des Gehirns, die an der Stirne gelegen sind. In der Kindheit und in dem Jünglingsalter ist das kleine Gehirn im Vergleich zu den Halbkugeln weit kleiner als in dem männlichen Alter, wo es vollkommen imstande ist, die Verrichtungen, zu denen die Natur es bestimmt hat, zu erfüllen. Von dieser Zeit an bis zu dem Alter von ungefähr vierzig Jahren erlangen alle Teile des Gehirns die Ausbildung, deren sie bei dem Individuum fähig sind.

Nachdem das Gehirn während 10 oder 20 Jahren stillstehen blieb, fängt es an abzunehmen, seine Fülle und Vollsaftigkeit zu verlieren, und in demselben Maße wird es untätiger. Indes schwinden alle Teile des Gehirns nicht im gleichförmigen Maße. Die unteren vorderen Teile nehmen eher ab als die anderen, und daher werden die davon abhängenden Gaben, z.B. das Wortgedächtnis, am ersten schwächer. Nach und nach werden alle Teile des Gehirns mehr oder weniger angegriffen, der Mensch verliert die Fähigkeit, eine große Menge Ideen miteinander zu verbinden, die Beziehungen der Dinge und die Verknüpfung der Ursache und Wirkung wahrzunehmen; die neuen Eindrücke gleiten gewissermaßen auf dem erschöpften Gehirn aus, und der Geist erinnert sich nicht mehr der Ereignisse von gestern, man gefällt sich in den weitschweifigen und stets wiederholten Erzählungen der Ereignisse seiner Jugend; der Zustand wird immer schlechter, bis endlich nur noch träge Gehirnfibern, Unempfindlichkeit und Einfalt übrig bleiben.

Die nicht gleichzeitige Entwicklung der verschiedenen Teile des Gehirns ist besonders bei den Individuen merkbar, welche eine Ausnahme von der gewöhnlichen Regel machen und bei denen gewisse Gaben sich eher als andere, oder weit später als gewöhnlich entwickeln, während alle anderen der gewöhnlichen Ordnung folgen. Mehrere Beispiele kommen in den Abhandlungen über die einzelnen Organe vor. Was hierbei am meisten auffällt, ist, daß die frühreifen Talente in allem anderen, was nicht ihr Talent betrifft, gewöhnliche Kinder sind wie andere.

Wäre das Gehirn nur ein einziges Organ, so könnten alle diese Erscheinungen nicht auf eine genügende Weise erklärt werden. Rudolphi sagt zwar, die nicht gleichzeitige Entwicklung der Geisteskraft ließe sich auch anders als aus der zu entsprechenden Zeiten erfolgenden Entwicklung der Organe erklären.

Das Kind, sagt er, fängt an Eindrücke zu empfangen, und erst nachdem es viel gesehen und gelesen hat, kann es anfangen, zu vergleichen und zu urteilen. Also würde das Urteil erst nach den Eindrücken kommen. Ebenso ist es mit allen anderen Geisteskräften; sie können sich nur entwickeln, wenn die zu ihrem Dasein nötigen Bedingungen erfüllt sind.

Hierauf kann man erwidern, daß man allerdings, um Vergleichungen zu machen und zu urteilen, mehrere Empfindungen gehabt und mehrere Begriffe erlangt haben muß. Indessen ist weder die Erfahrung, noch irgendeine Summe von Empfindungen und Ideen die Ursache, daß der Mensch diese Empfindungen und diese Begriffe vergleichen und beurteilen kann. Nach dieser Art zu urteilen, müßte jede Geisteskraft sich um so vollständiger äußern, je reichlicher die Materialien von außen zufließen, was aber nicht der Fall ist.

Wo sind die durch das Studium der Regeln der Kunst gebildeten großen Redner und erhabenen Dichter? Warum nehmen im Alter die Geisteskräfte ab, ungeachtet die Erfahrung und der Reichtum der Gegenstände der Vergleichung stets zunimmt?

Die äußeren Gegenstände sind nur insofern etwas für die lebenden Wesen, als letztere durch äußere und innere Werkzeuge fähig gemacht worden sind, die Eindrücke von außen aufzunehmen und auf diese Eindrücke einzuwirken. Wenn der Affen auch Jahrhunderte unter den Menschen lebt, so wird er doch stets Affe bleiben. Man gebe einem Einfältigen Tatsachen, lehre ihn die Regeln der Künste und Wissenschaften, umgebe ihn mit den besten Mustern, und sie werden unnütz sein. Die Reize der Venus selbst erregen nicht die Sinne eines unreifen Knaben.

Wenn jedoch die Sinne im Augenblick der Geburt vollkommen sind, so haben sie weder der Erfahrung, noch der Übung nötig, um ihre Verrichtungen zu tun. Die Spinne spinnt schon, sowie sie aus dem Ei auskriecht. Der Schmetterling, der kaum seine Flügel entfaltet hat, saugt schon den Saft der Blüten ein und empfindet schon das Bedürfnis, sich zu begatten, so wie der junge und kräftige Mann in dem Augenblicke, wo seine Organe vollkommen entwickelt sind, vor Verlangen brennt, eine Gefährtin zu finden. Nicht also die zufällige Wirkung der äußeren Gegenstände ist die Ursache der Wirkung eines Organs, sondern diese Ursache ist die Tätigkeit des Organes*) selbst. Da nun nach ewigen Gesetzen die verschiedenen Organe ihre gänzliche Vollendung nicht alle zu derselben Zeit entfalten, so fangen ihre Tätigkeiten zu verschiedenen Zeiten an, nehmen ab und hören ganz auf zu verschiedenen Zeiten und Perioden, und hieraus muß man notwendig auf verschiedene Organe schließen.

*) Gall meint hiermit das Gehirnorgan. Dennoch sind die seelischen Kräfte des Inneren unabhängig von den äußeren Erfahrungen.

Eine zu lange fortgesetzte Anstrengung des Geistes ermüdet nicht gleich stark alle Verstandeskräfte. Die Hauptermüdung ist stets nur teilweise, so daß man ausruhen kann, wenn man mit dem Gegenstand wechselt, ohne doch genötigt zu sein, ganz aufhören zu müssen. Dies wäre unmöglich, wenn bei irgendeiner geistigen Anstrengung das ganze Gehirn gleich tätig wäre. Jeder Gelehrte weiß, daß er durch Abwechslung mit den Gegenständen seine Geistesarbeiten weit länger fortsetzen kann, als wenn er sich stets mit demselben Gegenstand beschäftigt. Hieraus schließe ich mit Bonnet, daß die Ermüdung des Geistes aus dem Grunde bei dem Wechsel des Gegenstandes aufhört, weil die Seele dann auf andere Fibern (andere Organe) wirkt.


Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1995. Update 24. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
Freitag, 23. März 2007
 
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