Menschenkenntnis Lehrbrief V. - Part 6
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

C. Pathologische Beweise
Der Ursprung gewisser Gehirn-Krankheiten und die Art ihrer Heilung beweisen, daß es mehrere Organe des Geistes gibt.

Die Organe der Geisteskräfte sind in gewisser Hinsicht denselben Unordnungen unterworfen als die anderen Organe des Körpers. Wenn ein Muskel, ein Glied, das Auge, das Ohr eine fortdauernde Spannung empfinden, so wird die Reizbarkeit dieser Teile übermäßig erregt, und es entstehen dadurch Krämpfe, Zuckungen, Zittern usw., und der Wille ist unvermögend, diese in ordentlichen Bewegungen verschwinden zu machen.

Ebenso verfolgen uns Ideen, denen wir uns überlassen, lange Zeit, obgleich die Gegenstände, welche sie hervorriefen, uns nicht unmittelbar bewegen und aufregen. Fahren wir fort, uns ohne Rückhalt diesen Empfindungen oder diesen Lieblingsgedanken hinzugeben, so wird es uns immer schwerer, uns denselben zu entziehen; denn die im Spiele befindlichen Organe haben einen solchen Grad von Reizbarkeit erlangt, daß sei eines regelmäßigen, freiwilligen Dienstes unfähig sind. Auf diese Art wird der Mensch von gewissen Gedanken oder Gefühlen beherrscht. Die ist der häufigste Ursprung der sogenannten teilweisen Verrücktheit (Monomanie). Wenn das Gehirn ein einziges Organ ist und die gleichartige Masse bei jeder Geisteskraft ganz mitwirkt, so sehe ich nicht ein, warum der Mensch nicht eher in eine allgemeine Verrücktheit als in eine teilweise fallen sollte.

Und was beweisen die Heilarten, die die Ärzte anwenden, um einer teilweisen Verrücktheit zuvorzukommen oder sie zu heilen? Sobald die Ärzte bemerken, daß eine Person mit einer teilweisen Verrücktheit bedroht ist, so raten sie ihr, ihren gewohnten Beschäftigungen zu entsagen, sich zu zerstreuen, eine Reise zu machen und eine neue Lieblingsbeschäftigung zu wählen. Hierdurch erhalten die überreizten Organe Gelegenheit, sich zu erholen, während andere Organe ihren Verrichtungen tätiger obliegen. Ich selbst habe mehrere Male eine ähnliche Erfahrung an mir selbst gemacht.

In meiner Jugend war ich mondsüchtig (somnambul); ich hatte oft Visionen, ein sicherer Beweis der Übererregung meines Gehirns. Später trieb ich leidenschaftlich gewisse Studien, und nun bemerkte ich, daß diese Gegenstände meinen Ideen eine ausschließliche Richtung gegeben hatten; ich war oft schlaflos und bemühte mich umsonst, einzuschlafen; obgleich die Augen geschlossen waren, sah ich um mich eine Helle, wie bei vollem Tage. Ich fühlte, daß es nötig war, diesen Gegenständen weniger ausschließlich Aufmerksamkeit zu widmen, um aus dieser Lage herauszukommen. Ich schuf mir eine andere Lieblingsbeschäftigung, überließ mich der Gärtnerei, und das Gleichgewicht der Geisteskräfte wurde wieder hergestellt. Bis zu der heutigen Stunde fühlte ich die Notwendigkeit, mit meiner Beschäftigung abzuwechseln, um teils die Rückkehr zu diesen Überreizungen zu vermeiden, teils um die nötige Gleichheit des Geistes zu erhalten.

Hat die Überreizung eines Organes die Stufe erreicht, daß seine Wirkung unwillkürlich wird, so sind alle Ratschläge, die man dem Kranken gibt, unnütz. Dann müssen die Ärzte und die Verwandten den Kranken in eine neue Welt von Empfindungen und Gedanken versetzen und die Tätigkeit von bis jetzt untätig gebliebenen Organen erwecken, neue Leidenschaften erregen, ihm Geschmack für Beschäftigungen einflößen, die ihm bis jetzt fremd waren, und so den zu stark gereizten und angestrengten Organen Zeit geben, ihre natürliche Spannung und Handlungsfreiheit wieder zu gewinnen.

Ein Staatsmann wurde infolge einer zu einförmigen und zu lange Zeit fortgesetzten Geistesanstrengung verrückt; er genas durch Entfernung der gewöhnlichen Gegenstände seiner Aufmerksamkeit und durch Zerstreuung. Er glaubte aber von einem Rückfall bedroht zu sein und versicherte mir, er glaube ihn nur durch Abwechslung in seiner Beschäftigung verhindert zu haben.


Zweiter pathologischer Beweis
Geistige und moralische Kräfte könne durch eine Krankheit, eine Anregung, eine Überwindung usw. gestört, abgestumpft oder erhöht werden, während andere Verrichtungen der Seele in einem ganz verschiedenen oder in dem gesunden Zustande sind, eine Erscheinung, die man in der Voraussetzung, dass das ganze Gehirn nur ein einziges und gleichartiges Organ zur Äußerung aller Fakultäten ist, nicht begreifen kann.

Wenn es nur ein einziges Werkzeug der freiwilligen Bewegung, nur ein einziges Organ aller Verrichtungen der Sinne geben würde, müßten alle willkürlichen Bewegungen und alle verschiedenen Verrichtungen der Sinne in gleicher Zeit dieselben Störungen erleiden. Ebenso müßten alle Geisteskräfte gleichzeitig gestört werden, wenn ihre Äußerung von einem einzigen Organ abhängig wäre. Die Erfahrung beweist das Gegenteil. Ein Mann, dem man, als er sich setzen wollte, den Stuhl entzog, verlor durch die Erschütterung gänzlich das Namengedächtnis. In gleicher Lage befand sich zu Paris nach einem Nervenfieber ein Oberchirurg, und Broussone verlor nach einem Fall das Gedächtnis für Substantive.

Das durch das Alter bewirkte stufenweise Abnehmen der Fähigkeiten beweist ebenfalls die nach und nach erfolgende Vernichtung einer Fähigkeit nach der anderen. Dieser Umstand muß um so mehr auffallen, da manchmal auch bei dem vorgerücktesten Alter gewisse Kräfte ihre volle Energie behalten, während der Greis in bezug auf alle anderen geistesschwach ist.

Sehr häufig sind die Fälle, wo infolge von Verwundungen, Aufnahme von Giften oder auf Grund eines hitzigen Fiebers eine Qualität oder Fähigkeit sich bei einer Person in einem Grade entwickelt, wie sie in gesundem Grade niemals stattfand.*)

*) Gall führt hiervon eine große Menge Beispiele an.

Allgemein bekannt ist diese Art Verrücktheit, wo die Kranken hinsichtlich eines einzigen Gegenstandes verrückt und in allen übrigen vernünftig sind.

Bei denen, welche von Natur einfältig sind, sind demnach alle Geisteskräfte nicht gleich stark gelähmt. In den meisten Fällen bleiben einige Kräfte noch in ziemlicher Tätigkeit. In Paris sah ich zwei einfältige Mädchen, welche die Gesänge, die sie hörten, wohl merkten und nach langer Zeit ziemlich richtig sangen.


Der sogenannte Wilde von Aveyron
(Bild rechts: Film über den Jungen, 1970. Hinzugefügt)

Der sogenannte Wilde von Aveyron, der in Paris ins Taubstummen-Institut gebracht wurde, zeigte bei seinen äußerst beschränkten Geisteskräften einen Hang zur Ordnung, der bis zur Leidenschaft geht. Ist auch das unbedeutendste Ding nicht an einem Ort, wie z.B. eine Bürste, so läuft er herbei, um sie an ihre erste Stelle zu setzen. Manchmal werden die schwerfälligsten und apathischsten Einfaltspinsel von einem heftigen Hange zur Liebe beherrscht, andere haben einen unwiderstehlichen Hang zum Stehlen, wieder andere werden durch eine Art Wut gefährlich, die sie antreibt, die Häuser in Brand zu stecken, oder zu morden usw.

Das wilde Kind aus Aveyron, Frankreich (1799): Das namenlose Kind, das später "Viktor" genannt wurde
Wie bei Kaspars Auftauchen weckte auch die Festnahme des wilden Jungen aus Aveyron in Frankreich Interesse von sozialer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Seite. Das Ereignis führte zu den Untersuchungen der verschiedenen Wissenschaftler, wie z. B. Psychologen, Anthropologen, Sprach- und Literaturwissenschaftler. Es wurde zu einem solchen nationalen Ereignis, daß sogar Napoleons Bruder, der damalige Minister Lucien Bonaparte, sich damit beschäftigte.

Die Geschichte des wilden Jungen widmete sich vielen Fragestellungen. Darunter sei, wie Roger Shattuck in seinem Buch "The Forbidden Experiment" zu seinem Hauptthema herausarbeitete, vor allem die Natur des Menschen am wichtigsten gewesen. Ist der Mensch in der Natur aggressiv und boshaft oder unschuldig? Die Philosophen der Ethik haben mit dem Gedanken gespielt, ein Experiment auszuführen, in dem ein Baby ohne jedweden gesellschaftlichen Einfluß lebt und von Wissenschaftlern beobachtet wird, um das Rätsel der Natur des Menschen zu lösen. Natürlich wäre aber dies moralisch unakzeptabel. Der Junge aus Aveyron löste die Problematik der moralischen Frage, und deswegen bot sich ein natürliches Experiment an, um zu untersuchen, ob der moderne Mensch ein Produkt seiner Umwelt oder seines natürlichen Wesens ist.

Noch bevor Itard, damaliger erfolgreicher Anstaltsarzt der Parisier Gehörlosenschule, 1800 der Pflegevater des Jungen wurde, haben verschiedene Authoritäten in den Geisteskrankheiten und in der Taubstummerziehung sich mit der Diagnose der Krankheit des Jungen beschäftigt und über seine physischen und geistigen Zustand berichtet. Die Wissenschaftler haben den Jungen ganz unterschiedlich bewertet. Der erste offizielle Pflegevater des Jungen, P. J. Bonnaterre, der auch der Leiter eines Waisenhauses in Rodez gewesen war, beschrieb die Umstände des Jungen in den ersten sechs Monaten nach seinem Auftauchen mit einer optimistischen Tönung.

Unter die frühe Gutachten sind Pinels ein der wichtigste zu nennen. Er bemerkte, daß es für den Junge keine Möglichkeit des Fortschritts gebe, und er sei niedriger als Tiere: „When one makes a sound, he turns around . . . If one repeats the same sound, he no longer pays attention. He is totally insensible to music . . . Is there any reason not to say that in this area even elephants have an advantage over him?. . . One could well conclude from the way the boy tests food that his sense of smell is very delicate and cultivated, if one didn't know that he defecates and urinates right in his bed. This behavior seems to place him lower than all animals, both wild and domestic.“

Trotz der Diagnose Pinels bat Itard um das Sorgerecht für den Jung. Mit der Erlaubnis von Bonaparte und der Gehörlosenschule wurde er offiziell der Verantwortliche.

Viktor im Film
François Truffaut drehte 1970 seinen Film über den wilden Junge aus Aveyron "L'a Enfant Savage". Der schwarz und weiß gedrehte Film stellte die physische und geistige Entwicklung des Jungen im Zusammenhang mit Itards wissenschaftlichem Versuch, dies zu dokumentieren dar. Als er im Frieden wie ein Naturkind im Wald lebte, wurde er von "zivilisierten" Bauern in einer gewaltigen Jagdszene gefaßt. Demzufolgen stand vor Viktor die große Schwierigkeit und Herausforderung, es zu lernen, sich an die Welt der "modernen" Menschen anzupassen. Die Entwicklung der Sinne und Gefühle, die Kommunikation zwischen Viktor und seiner Umwelt und der Aufbau der Selbstidentität, wurde Schritt um Schritt mit der Geschichte seiner ersten Schuhe, seines ersten Niesens, seiner ersten Rebellion gegen Unrecht dargestellt. 

ZEITTAFEL ZUM WILDEN KIND AUS AVEYRON
Januar 1800: Die Bauern in Saint-Sernin (Aveyron) in Süd-Frankreich haben ein wildes Kind festgenommen. Das etwa 12-jährige Kind trug nichts anderes als ein zerrissene Hemd. Es konnte außer unbedeutsamen tierischen Lauten nicht sprechen. In anderen Dörfern Süd-Frankreichs hatten die Bauern auch ein solches wildes Kind gesehen und sich sogar um es gekümmert, aber es hat zweimal weggelaufen. Es wurde vermutet, daß dies dasselbe Kind war.
Januar-Februar 1800: Viktor lebte im Waisenhaus in Saint-Affrique unter ungünstigen Umständen.
Februar-Juli 1800: Bonnaterre kümmerte sich um ihn in der Zentral Schule in Rodez. Danach veröffentlichte er im August den ersten Bericht über den Zustand des Jungen, "Notice historique sur le Sauvage de l'Aveyron".
August 1800: Auf Bitten der offiziellen-Behördens wurde er zur Gehörlosenschule in Paris gesandt.
November (Dezember) 1800: Itard fing an, Viktor auszubilden.
November 1800: Pinels Bericht beschließ, daß Viktor ein 'Idiot' sei.
1801: Itards erster Bericht über den Zustand des Jungen wurde veröffentlicht.
Januar 1801: Das wilde Kind erhielt seinen Namen: Viktor!
1802: Einüben der Sinne, des Hörens, des Geschmackssihns und des Sehens.
1807: Itards zweites Gutachten (1806) über Viktors Entwicklung wurde veröffentlicht. Itard entschied sich, nicht mehr mit Viktor zu üben. Er zog den Schluß, daß die Pubertätspobleme bei Viktor weiteres Lernen verhindern hätten.
Juni 1811: Mme Guerin und Viktor zogen zusammen aus dem Institut in eine andere Wohnung in der Nähe.
1828: Viktor starb in Paris. (Text hinzugefügt)

Diese Tatsachen lassen sich unmöglich erklären, wenn man nicht mehrere Organe des Gehirns annimmt; eine Sache, wogegen sich die alten Vorurteile noch auflehnen. Man will bei der Mehrheit und dem Umstande, daß die Organe doppelt sind, nicht begreifen, wie eine gänzliche Verrücktheit möglich ist. Ist aber eine allgemeine Krankheit des Körpers bei der Menge von Eingeweiden und Teilen desselben dann nicht auch unbegreiflich?


Einfluß des Gehirns auf die Gestalt des Schädels und die plastischen Schädelregionen als Charakter-Wahrzeichen

Alle Nerven verzweigen und erweitern sich, nachdem sie sich hinreichend verstärkt haben, in dem Teile, durch welchen sie ihre Verrichtungen tun sollen. Die Nerven des Gefühls und der Bewegung erweitern sich in der Haut und in den Muskeln, die Nerven der Sinne in den äußeren Werkzeugen, zu denen sie gehören, der Geruchsnerv in der Schleimhaut der Nase, der Geschmacksnerv in der Zunge, die Erweiterung der Sehnerven bildet die Netzhaut.

Der Teil, in dem der Nerv sich erweitert, ist zwar nicht das ganze Organ, indessen kann man von der Ausdehnung der Erweiterung auf die Größe des Nervens selbst schließen.

Die Erweiterung des Geruchsnervs ist bei dem Hunde und dem Pferde größer als beim Menschen. Auch ist der Nerv von seinem Ursprunge bis zur Erweiterung bei diesen Tieren dicker als beim Menschen. Die Natur befolgt beim Gehirn dasselbe Gesetz. Die verschiedenen Teile des Gehirns entstehen und verstärken sich in verschiedenen Punkten und bilden mehr oder weniger bedeutende Faserbündel, die sich endlich erweitern. Aller Erweiterungen der verschiedenen Faserbündel vereinigt bilden die Halbkugel des Gehirns.

Die Halbkugeln sind also nichts anderes, als eine ein oder zwei Linien dicke nervige Haut, die an der äußeren Fläche mit einer teigigen oder gallertartigen grünlichen Masse bedeckt ist.

Man denke sich diese große Haut, die man an bedeutenden Wasserköpfen findet, wie eine Falbel gefaltet, so daß jede Falte beinahe 12-16 Linien Tiefe hat, so entstehen Windungen, deren Zwischenräume von den Anatomen den Namen der Krümmungen erhalten haben, und wir haben die zwei Halbkugeln, wie die Natur sie in den Schädel gesetzt hat, in ihrer Faltung.

Die Erweiterung des Geruchsnervs bildet ähnliche Faltungen in der Nase. Ein kleines Nervenbündel kann nur eine wenig beträchtliche Erweiterung bilden und also nur kleine Falten, nur eine kleine oder mehrere kleine Windungen. Ein bedeutendes Nervenbündel bildet dagegen eine weite und dicke Erweiterung und also weit größere Falten und Windungen. Obgleich nun nicht alle Teile eines Gehirnorgans von ihrem Ursprunge bis zu ihrer Erweiterung auf der Oberfläche des Gehirns liegen, kann man doch aus der Größe der Falten oder der Windungen bestimmte Schlüsse auf die Größe des Organs machen. Je länger, tiefer und breiter die Windungen sind, um so mehr Raum nehmen sie ein, und um so mehr erheben sie sich über die, welche weniger lang, breit und tief sind; so daß ein Gehirn, dessen Teile unregelmäßig entwickelt sind, an seiner Oberfläche Vertiefungen, flache Teile und Erhöhungen zeigt. Manche Erweiterung eines Nervenbündels oder eines Organs ist nur in eine Windung gefaltet, eine andere in mehrere.

Die Falten oder Windungen haben nicht alle dieselbe Richtung. Die einen gehen gerade von vorn nach hinten, andere quer von oben nach der Seite, andere schief; fast alle schlängeln sich etwas, einige bilden Pyramiden, andere winden sich spiralförmig usw. Die Grundformen dieser Windungen sind in allen menschlichen Gehirnen dieselben und gleichliegend in den Halbkugeln des Gehirns und symmetrisch. Bei den kleinen Gehirnen, wie bei dem der Hunde, Pferde, Ochsen, Schafe usw., ist die Symmetrie vollkommen, bei den Menschen haben kleine Abteilungen eine veränderliche Form. Alle Formen der Haupteinteilungen sind auf dem Schädel unter demselben Typus sichtbar, wenn diese Einteilungen eine große Entwicklung erlangt haben, und daraus lassen sich die Anlagen erkennen. Galienus sagte schon, der Schädel forme sich nach dem Gehirn. Im 17. Jahrhundert lehrten Laureus und Diemenbrook dasselbe.

Dem Organologen ist es nur nötig, die Teile des Kopfes zu kennen, deren Gestalt von dem Gehirn abhängt.

In den ersten Wochen nach der Empfängnis ist das Gehirn noch nicht vn einer Knochenmasse umgeben, sondern nur von vier Häuten, und erst in der 7. und 8. Woche bilden sich in den Häuten Punkte, von denen die Verknöcherung ausgeht, die dieselbe Richtung wie die Haut befolgt, daher formt sich der Schädel genau nach dem Hirne. Da nun dasselbe bei jedem Individuum eine andere Gestalt hat, so sind auch an den Köpfen der neugeborenen Kinder schon Verschiedenheiten bemerklich, und ihre Gestalt ist ihnen von Natur angeboren. Dies zeigt auch die Erblichkeit der Züge des Gesichts und der Gestalt anderer Teile, deren künftige Form schon im Augenblick der Empfängnis bestimmt sein muß. Daher wird zwar kein Kind mit einer Adlernase geboren, aber die Nase mancher Kinder hat ein Bestreben, gewisse Formen anzunehmen.

Bei aufmerksamer Betrachtung könnte man aus den Formen des Fötus die Formen des erwachsenen Menschen bestimmen.

Einige haben im Ernst geglaubt, die Form des Schädels könne bei der Geburt, sowie durch die Hand der Ammen verändert werden. Dies ist aber kaum möglich, indem die Gestalt des Kopfes von der Gestalt jedes Knochens abhängt, die nicht verändert werden kann, als durch einen so heftigen Druck, wodurch das Kind sterben oder für sein ganzes Leben einfältig werden würde. Da nun aber alle Knochen anfangs noch sehr elastisch sind, nehmen sie nach Aufhörung des Druckes wieder ihre vorige Gestalt an.

Selbst wenn sie eingedrückt werden würden, würde das Gehirn, im Fall dasselbe nicht wirklich beschädigt worden wäre, wieder nach einiger Zeit, manchmal erst nach einigen Jahren, die ursprüngliche Gestalt wieder herstellen.

Nach der Geburt werden die Knochen des Schädels härter und verlieren ihre Biegsamkeit; ihre Ränder vereinigen sich und die häutigen Zwischenräume, die Fontanelle, verknöchern.

Indessen formt sich auch in diesem Zustande der Schädel nach dem Hirn, welches schon aus der Größe des Gehirns hervorgeht, das ohne Zweifel bei einem zweijährigen Kinde weit größer als bei einem neugeborenen und noch größer bei einem Erwachsenen ist. Der Kopf eines neugeborenen Kindes hat 13-14 Zoll Umfang, der eines Erwachsenen 20-21 1/2 Zoll, also muß der Schädel um so weiter werden, je größer das Gehirn wird.

Die bis zur Mannbarkeit noch dünnen, kaum 1/2 Linie dicken Schädelknochen folgen ebenso dem Gehirne. Die Aus-dehnung des Schädels geschieht nicht durch den mechanischen Druck des Gehirns, sonder durch Abnutzung, Absonderung, Ernährung, Zersetzungen und Verbindungen; so lange Knochenmasse eingesogen und andere an ihre Stelle abgesetzt wird, und solange das Gehirn und der Schädel noch nicht ihr höchstes Wachstum erlangt haben, ist die Absonderung weit stärker als die Einsaugung. Die neuen Ansätze folgen denselben Gesetzen wie die früheren, das heißt, sie folgen den Umrissen des Gehirns.

Da die Entwicklung aller Teile des Gehirns nicht gleichzeitig vor sich geht, so verändert sich der Kopf auch in seiner Gestalt und nicht allein im Umfang.

Das neugeborene Kind bleibt einige Zeit lang der äußeren Welt fremd, sein Leben ist bloß negativ und zwischen Schlafen und Saugen geteilt. Der obere vordere Teil des Gehirns an der Stirn ist nur ein rötlicher Brei, obgleich man, wenn es in Weingeist gelegt wird, eine faserige Struktur bemerkt, wird aber nach einigen Wochen faseriger; das Kind fängt an, die Welt zu betrachten, und nach drei Monaten wölben sich die bisher senkrechten oder rückwärts verflachten mittleren und vorderen oberen Teile der Stirne. Von nun an betrachtet das Kind lange Zeit aufmerksam alle Gegenstände, vergleicht sie unter sich, erlangt in wenigen Jahren eine ungemeine Masse von Kenntnissen der Außenwelt und setzt uns durch seine Fragen und Beobachtungen in Erstaunen.

Das Gehirn der meisten Menschen erreicht seine völlige Entwicklung kaum vor 30 Jahren, manchmal selbst erst im vierzigsten Jahre.

Nachdem das Gehirn völlig entwickelt ist, wird der Schädel nach und nach dicker. Die Knochen des Schädels sind aus zwei festen knochigen Platten zusammengesetzt. Die eine dieser Platten bekleidet die ganze äußere Fläche, die andere bildet die innere Fläche; der Zwischenraum zwischen beiden Platten oder Tafeln ist mit einer zelligen Masse, der Diplon, erfüllt, die nicht überall gleich dick ist, so daß beide Tafeln an manchen Stellen weniger genähert sind als an anderen.

Diese Abweichungen macht es nicht immer möglich, die kleinsten Räume der Windungen zu erkennen, auch kann man gewisse Windungen durch die äußere Ansicht des Schädels überhaupt nicht wahrnehmen, und es gibt Fälle, wo die innere Tafel mit der äußeren Tafel des Schädels nicht parallel läuft. Die Negerschädel sind oft dick und schwer, die Schädel der Grönländer und Eskimos, welche Blumenbach in einigen Stücken besitzt, sind dünn und leicht. Herodot sagt, daß die Ägypter dickere Schädel gehabt haben, als die Perser. Manche Schädel sehr beschränkter Menschen sind sehr dick, ohne daß dieses von vorgerücktem Alter oder Geisteskrankheit herkommt.

Bei Annäherung des Alters verliert das ganze Nervensystem seine Fülle, und daher nimmt auch seine Tätigkeit ab.

In allen Teilen des Körpers werden die Nerven kleiner, die Windungen des Gehirns ziehen sich zusammen, sinken ein, es bilden sich an ihren Hervorragungen Flächen und Grübchen, sie entfernen sich voneinander, und das ganze Gehirn nimmt mit einem Worte ab. Indessen entsteht durch Verminderung des Gehirns kein leerer Raum zwischen dem Gehirn und der inneren Tafelfläche des Schädels. In den meisten Fällen sind die Schädel alter Leute weit dicker und leichter, als die der jüngeren oder der völlig Erwachsenen; die innere Tafelfläche folgt nämlich dem sich zurückziehenden Gehirn nach, und zwischen beide Tafeln setzt sich Knochensubstanz ab. In einigen Fällen wird der Schädel bei dem Greise dünner. Manchmal wird in einem sehr vorgerückten Alter der Schädel sehr dick und schwammig, später wird die äußere Tafel, sowie die unter ihr liegende schwammige Masse, eingesogen. Diese Absorption fängt gewöhnlich in den Seitenbeinhügeln an, so daß hier manchmal tiefe eirunde Vertiefungen entstehen.

Ehe das Tier oder der Mensch geboren wird, ist schon die Gestalt eines Fötus von der eines anderen abweichend, und die Gestalt jedes Kopfes zeigt schon die herrschende Form an. In dem Fötus haben die Muskeln noch nicht gewirkt, damit fällt der Einwand mancher Naturforscher, daß das Ziehen mancher Muskeln Erhöhungen, das andere Abplattungen des Schädels bewirken könnte.

Die Veränderungen der Schädelknochen bei den Geisteskranken, welche nur eine Folge der Gehirnkrankheit sind, geben uns die Gewißheit, daß das Gehirn der unmittelbare Sitz des Übels ist und nicht die Seele, noch eine vorgebliche Verkehrung der Einbildungskraft, sondern sie muß in den materiellen Werkzeugen gesucht werden.


Veränderungen des Schädels bei Selbstmördern und Verbrechern

Die Schädel einer großen Menge von Personen, welche sich selbst getötet hatten, fanden wir alle sehr dicht, sehr schwer und sehr dick, oder wenn sie nicht dick waren, elfenbeinartig, wie bei jedem anderen Irrsinn, der lange angedauert hat. Dies ist ein Beweis dafür, daß der Selbstmord in den meisten Fällen aus einer Krankheit des Gehirns entsteht, obgleich oft seine entfernte Ursache im Unterleibe liegt. Oft fanden wir bei großen Verbrechern, deren Untaten nicht hinreichend durch äußere Veranlassungen gerechtfertigt werden konnten, den Schädel in demselben Zustande wie bei Verrückten.

Möchten die Richter hierauf Rücksicht nehmen*) Ein Beweis der Kraft weicher Massen gegen die Knochen

Bei Verletzungen des Schädels und gewissen Krankheiten der Gehirnhäutlein hat man viele Beweise, daß, wenn, nicht allein in der Kindheit, sondern auch im reifen Alter, Teile des Schädels eingestoßen werden, sie wieder unmittelbar darauf oder nach einiger Zeit ihre erste Lage angenommen haben.

Wenn sich in dem Gehirnhäutlein Auswüchse bilden, so höhlen sie sich selten in die weiche Substanz des Gehirns ein, sondern nach außen. Die innere Platte des Gehirns wird absorbiert und abgenützt, die äußere erhebt sich nach außen und wird dünn und durchscheinend. Durch diese Erhöhungen erkennt man die Auswüchse, Hydatiden, bei den Tieren und Menschen.


Wie urteilt Carl Huter über Gall und seine Phrenologie?

Diese Lehren und Begründungen Galls werden genügen, den Studierenden einen Einblick in Galls Schaffen und in sein Lebenswerk, „Die Phrenologie“, zu geben. Ich habe Gall selbst zu meinen lieben Schüler und Schülerinnen sprechen lassen und glaube, diesen hochverdienten Forscher dadurch am besten zu Ehren gebracht zu haben.

Was nun die Auffindung der Gehirnorgane selbst anbetrifft, so ist Gall mit der gleichen Beobachtungsgabe und Denkschärfe vorgegangen, die alle seine bisherigen Darlegungen auszeichnen. Gall machte nicht nur vergleichende Studien bei Menschen, sondern auch bei Tieren. Gall fand z.B., daß alle Menschen und alle Tiere, die mit einem sehr starken Geschlechtstrieb ausgezeichnet sind, einen stark ausgeprägten gewölbten Nacken und Schädelansatz des Hinterhauptes haben. Da hier das Kleinhirn liegt, so folgerte Gall daraus, daß die Größe des Kleinhirns den Geschlechtstrieb kennzeichne. Darüber war die untere Region des Hinterkopfes bei Menschen mit starker Kinderliebe stets stark plastisch hervortretend, Gall folgerte hieraus das Hirnorgan der Kinderliebe. Die Nachprüfungen bestätigten dies. So fand er nacheinander den Mut, den Selbstverteidigungssinn, den Würg- und Verstellungs-, den Bau- und Gesangssinn, den Form- und Beobachtungs-, den Höhen-, Ruhm- und Festigkeitssinn, den Orts-, Farben- und Zahlensinn, die Denkkräfte, die Religiosität und Idealität, den Sprach- und Wortsinn nach der Lage im Gehirn und der analogen Wölbung des Schädels usw. heraus.


Die von Gall aufgefundenen Gehirnorgane für die verschiedenen geistigen Grundkräfte oder Fakultäten

Der hintere Schädel und die Lage der verschiedenen Geistesorgane des Gehirns. Die Kraft oder Schwäche der geistigen Grundkräfte gibt sich in der Kraft oder Schwäche der betreffenden Gehirn- und Schädelwulstungen oder Ausbuchtungen zu erkennen

Demnach hat Gall zwanzig Sinne oder geistige Grundkräfte und ihre Lage entdeckt und damit die Grundlage zu einer neuen naturwissenschaftlichen Psychologie geschaffen. Das für die Psycho-Physiognomik Auffällige ist hierbei, daß diese geistigen Grundkräfte an der Physiognomie oder an der Peripherie des Kopfes, speziell des Schädels, sich zu erkennen geben. Der große Fortschritt, den Gall dadurch für die Wissenschaft anbahnte, war, dass man fortan die Lage der hauptsächlichsten Geistesorgane ebenso sicher bezeichnen konnte, als man fortan die Lage der Knochen, Muskeln und Eingeweide schon früher genau kannte. Gall hat sich als ein Forscher und Bahnbrecher ersten Ranges und als einen Meister der Nerven- und speziell der Gehirn-Anatomie und Physiologie erwiesen. Er ist ein Entdecker zahlreicher seelischer Triebe und Neigungen, die niemand vor ihm in dieser Art gefunden hat. Folglich steht Gall in der Geschichte der Seelenkunde, der Gehirn und Nervenlehre und der Schädelphysiognomie als ein bahnbrechender Forscher in der Geschichte der Menschenkenntnis unantastbar da.

Wohl baute auch er auf den bekannten Grundlagen der damaligen Nerven-Anatomie weiter, aber seine Arbeiten sind originale Schöpfungen.

Alte originale Schädeldarstellungen mit den Inschriften der von Dr. Gall entdeckten geistigen Grundanlagen

Tafel II  Alte Phrenologie von Dr. med. Gall
I. Der hintere Schädel und die Lage der Organe:
Geschlechtstrieb, Jungenliebe, Mut, Freundschaft, Stolz. Eitelkeit, Beständigkeit = sieben Sinne


Tafel II  Alte Phrenologie von Dr. med. Gall
II. Der vordere Schädel und die Lage der Organe:
Wortsinn, Sprachsinn, Personensinn, Ortssinn, Sachsinn, Tonsinn, Witz, Tiefsinn, Scharfsinn, Dichtersinn, Nachahmungssinn, Gutmütigkeit, Relgiosität = 13 Sinne

Abgesehen von diesen wertvollen Leistungen ist das ganze Gallsche Lebenswerk im Lichte der Huterschen Psycho-Physiognomik trotz alledem nur ein Stückwerk, ein schwacher Abglanz der großen allumfassenden Wahrheit.

Wenn ich diesem großen Meister das zu sagen wage, so geschieht es nicht ohne tiefes Weh, denn ich möchte, ich könnte sagen: „Meister, du hast alle Vollendung gefunden, Lob und Preis dir bis in alle Ewigkeit!“ Aber nein, das kann ich nicht sagen, sondern: „Meister, du hast vieles Große geschaut, entdeckt, nachgewiesen, was keiner vor dir fand, ich danke dir für das viele Wertvolle, was du uns gebracht hast, aber ich sehe auch an deinem Werk Mängel, Lücken, Mißratungen, verkehrte Deutungen, verzeihe mir, wenn ich mir erlaube, das mit meiner Psycho-Physiognomik besser zu machen!“

Tafel II  Alte Phrenologie von Dr. med. Gall
III: Der seitliche Schädel und die Lage der Organe:
Mordsinn, Schlauheit, Behutsamkeit, Kunstsinn, Diebsinn = fünf Sinne

Du aber, Meister Gall, und du, o teurer Seelenforscher Lavater, beide groß im Beobachten der Form, beide groß im Seelenschauen, Gall größer im analytischen Denken, Lavater größer im Formempfinden – ihr bahntet der Wissenschaft, der Menschenkenntnis, der Menschheit neue Wege. Ich nenne euch beide meine besten Vorläufer und Vorarbeiter. Das große Werk, das ihr angefangen habt, was eurer schwachen Kraft zu überschwer und allmächtig war zu vollbringen, ich habe es neu begonnen, neu gestaltet, ausgebaut und vollendet!

In euren Werken sind teilweise grundlegende Bausteine für meine Psycho-Physiognomik vorhanden, teilweise aber mußten sie auch als hinderlicher Schutt abgefahren werden, denn aus dem Unvollkommenen kann sich erst das Vollkommene entwickeln. Wie, das wollen wir weiter sehen. An dem Schöneren, Besseren werdet ihr auch, wie alle meine Schüler, die gleiche ungeteilte Freude empfinden, soweit die Freude rein ist von Neid, Eifersucht und mangelhaftem Erfassen!

Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1995. Update 24. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.http://www.mtholyoke.edu/courses/gdavis/325students/wild%20child/itard.htmlhttp://www.mtholyoke.edu/courses/gdavis/325students/wild%20child/truffaut.htmlshapeimage_2_link_0shapeimage_2_link_1
Hauptwerk - Lehrbrief 5 (von 5)
 
HAUPTWERK
Menschenkenntnis
Lebensschule
der Zukunft
Status:
Absolute Referenz