Menschenkenntnis Lehrbrief V. - Part 7
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

DRITTER TEIL DES LEHRSTOFFES
Die besten wissenschaftlichen Ausbauer und Vertreter der Gallschen Phrenologie:

Dr. med. Spurzheim, Prof. Dr. med. Combe, Dr. med. Noël, Dr. med. phil., et jur. Scheve. Die einflußreichsten neueren deutschen Gegner der Phrenologie und ihre verfehlten Beweisführungen: Prof. Dr. med. Hirtl, Bock, Virchow und Rieger. Die wirkliche Wahrheit über die Phrenologie, ihre Fehler und ihre inneren bleibenden Werte, eine kritische Untersuchung an der Hand unserer besten gegenwärtigen Nerven- und Gehirn-Anatomen und Physiologen: Prof. Dr. med. Möbius und Prof. Dr. med. von Bunge Galls bester Schüler, Dr. med. Spurzheim, ein hochbegabter und edler Mann, ein geistreicher Forscher und gewandter Redner, war nicht nur in Paris bei Galls Sammelarbeiten und Spezialforschungen ein fleißiger Mitarbeiter, er hat auch Anteil an Galls schriftstellerischen Hauptwerken. Gall war der Erfinder und Anreger, Spurzheim der Ausbauer und Vollbringer dieses Systems. Viele Organe und Grundeigenschaften, die Gall nicht mehr gefunden hat, hat Dr. Spurzheim nach seines Lehrmeisters Tode entdeckt, so daß er die Zahl der Fakultäten von zwanzig bis auf über dreißig vermehren konnte. Dr. Spurzheim hat, nachdem die Gallsche Lehre in Paris, in Frankreich Wurzel geschlagen hatte, sich zur Lebensaufgabe gemacht, dieselbe in England und dann in Amerika weiter zu verbreiten. Dieses ist Spurzheim in vollem Maße gelungen.

In diesen drei Ländern fand die Phrenologie die bedeutendsten wissenschaftlichen Vertreter, während sie in Deutschland mehr auf zynische Kritiker und in Österreich auf direkt übelwollende Ablehnung stieß.


Menschliches Gehirn
(Hinzugefügt)

Nur wenige hervorragende Deutsche haben sich eingehend mit der Gallschen Lehre beschäftigt und dieselbe entsprechend gewürdigt. Die Mehrzahl der deutschen Ärzte und Naturforscher ließ sich leider bestimmen, mehr den böswilligen Zynikern zu folgen, als auf sachliche Prüfung über den Gegenstand einzugehen, und gerade die deutsche Wissenschaft ist es gewesen, die diesen verdienten Forscher und sein Lebenswerk vor aller Welt in ungerechtester Weise abgetan hat. Es ist daher Pflicht der deutschen Wissenschaft und besonders der deutschen Ärztewelt, dies wieder gut zu machen und den Mann zu den verdienten Ehren zu bringen, zumal er einer der größten Ärzte und Anatomen war, welche das deutsche Vaterland hervorgebracht hat.

Die Tatsache, die ich kürzlich erfahren habe, daß dieses unter der Führung des Nervenarztes Professor Möbius in Leipzig und des Physiologen Professor von Bunge in Basel neuerdings eifrig geschieht, ist mir eine große Freude gewesen.

Hirne im Vergleich
(Hinzugefügt)

Der Anteil deutscher, französischer, englischer und amerikanischer Forscher an dem Ausbau und an der Verbreitung der Gallschen Phrenologie

Gall hat für seine Lehre weder das Wort „Phrenologie“ noch das Wort „Kranioskopie“ in Anspruch genommen, sondern er selbst bezeichnete sie mit dem Namen „Organologie“. Gall schien das Wort Phrenologie jedoch durchaus der passendste Ausdruck zu sein, denn er hat nie dagegen Widerspruch erhoben. Phrenologie ist, wörtlich übersetzt, „Gehirntätigkeitslehre“*). Kranioskopie heißt, genau übersetzt, „Schädelschaulehre“. Leicht ist es nicht, zwischen diesen drei Worten das rechte zu wählen, um die Gallsche Lehre damit zu kennzeichnen. Das Lieblingswort Galls, „Organlogie“, ist aber auch nicht das, was diese Lehre richtig darstellt, es müßte dann „Geistige Organologie“ heißen, aber auch damit ist die Lehre nicht ganz getroffen, denn sie ist auch Hirn- und Schädelkunde, folglich auch mit körperliche Organologie. Organologie aber läßt sich auf jeden Gegenstand der inneren oder äußeren Organe ebenfalls anwenden; man kann z.B. von der Organologie einer Uhr, einer Orgel, einer Maschine, auch einer Pflanze reden. Uhren, Orgeln, Maschinen, Pflanzen bestehen aus Organen. Da Gall aber das Wort „Kranioskopie“ direkt unerwünscht war, so glaube ich, bleibt man am besten bei dem Worte „Phrenologie“.

*) Nicht nur physiologisch, sondern auch psychisch gedacht, da „phreno“, ein griechisches Wort, das Zwerchfell bedeutet und dieses nach altgriechischer Ansicht der Sitz der Seele war.

Gall war in erster Linie Gehirnforscher, Gehirnanatom und Gehirnphysiologe und viel weniger das, was Lavater war, Schädel- und Gesichtsbetrachter. Gall war also weniger Kranioskopier, Physiognomiker und Psychologe als Gehirnorganforscher.

Gehirn
(Hinzugefügt)

Hier im letzteren Gebiete liegt seine einwandfreie Größe, die auch von seinen Gegnern zugegeben ist, wohingegen er sich als Psychologe und Schädelphysiognomiker trotz bahnbrechender Arbeiten geirrt hat. Wie schwer er sich als Schädelphysiognomiker irrte, geht daraus hervor, daß er an Goethes Bild und Stirn nicht das dichterische Talent erkannt hat, was ihm Goethe, nebenbei gesagt, anfänglich stark verübelte. Gerade durch diese seine physiognomische Schwäche hat er sich als praktischer Phrenologe sehr oft und sehr schwer geirrt, was ein Hemmschuh dafür war, daß seine Lehre als Psychologie nicht einwandfrei anerkannt wurde.

Gehirn
(Quelle: Photocase.com - Hinzugefügt)

Gall war viel weniger ein scharfer Beobachter als ein scharfer Denker, er fand seine Lehre mehr auf dem Denkwege, und erst hinterher suchte er durch Beobachtungsmaterial die Beweise für seine Vergleiche und Schlußfolgerungen zu erbringen. Es waren ihm daher die grobförmigen Tierschädel die liebsten Beobachtungsobjekte, weil diese groben Formen leicht zu erkennen sind und man dazu keinen feiner beobachtenden Spürsinn benötigt. Er schloß einfach, „da alle Raubtiere zu den Ohren hin einen breiten Schädel haben und alle Raubtiere Mord- und Würgetiere sind, so liege im Gehirn zu beiden Seiten unmittelbar über oder um die Ohren der Mord- oder Würgsinn. Da die geschlechtsstarken Tiere, die Bullen, Widder, Hähne, Hirsche, Hengste usw. starken Nacken und Hinterhaupt haben, so liege dahinter der starke Geschlechtstrieb im starken Kleinhirn, folglich sei bei schwachem Kleinhirn der Nacken schwach und der Geschlechtstrieb schwach. Ferner, da bei fast allen Frauenhirnen und –schädeln der untere Hinterkopf stärker als bei Männern ist, so liege die Kinderliebe, welche Naturberuf der Mutter ist, als Organ der Kinderliebe im unteren Hinterkopf.“ Diese einfachen Folgerungen auf dem reinen Denkwege führten ihn tatsächlich zur Entdeckung vieler geistiger Grundkräfte und zu dem Nachweise, daß für gewisse geistige Grundkräfte stets gewisse Hirnteile oder Organe vorhanden sein müssen, um sich betätigen zu können. Die Beobachtung selber war bei Gall zuerst nur auf die allergröbsten in die Augen springende verschiedenartigen Formen und Gestalten der Tier- und Menschenschädel gerichtet, und dabei genügten ihm stets nur die allereinfachsten Anhaltspunkte. Seine Beobachtungsgabe schärfte er erst durch den Kampf, der ihm aufgedrungen wurde, und zwar zu dem Zwecke, um in erster Linie feiner sehen und die Menschenschädel untereinander schärfer unterscheiden zu lernen. Aber selbst hier blieb er mehr ein grober Anatom und hat sich nie ganz zum feinen Psycho-Physiognomiker ausgewachsen.

Daher ist der weit feiner angelegte Dr. Spurzheim als Schädelphysiognomiker mit einer feineren Beobachtungsgabe, als sie Gall besaß, und auch mit einer glänzenderen Beredsamkeit auf weniger Kampf und Schwierigkeiten gestoßen.

Er bewies eben durch gut zutreffende praktische Beurteilungen, daß die Phrenologie wissenschaftlichen Wert in sich barg. Dr. Spurzheim fand daher auch noch viele feinere Organe des Gehirns und ihre Bedeutung für die geistigen Tätigkeiten heraus, die Gall nicht mehr gefunden hatte. 

Auch das vornehme edle Wesen Dr. Spurzheims eroberte sich weit mehr Sympathie, als es Gall mit seiner derberen und oft verletzenden Art gelungen war. Auch die Idee Galls, daß das Organ des geistigen Schauens nur subjektiv arbeite und nicht objektive Vorgänge wahrnehmen könne, beweist Galls mangelhaften psychologischen Tiefblick. Die fast bis an Verhöhnung grenzende Kritik der Seher, wie des Johann Jung Stilling und anderer, die materialisierte Geister wirklich gesehen haben, kennzeichnet Gall als einen tatsächlich groben Materialisten, der die geistige Welt leugnete und alles Geistige tatsächlich nur an das Gehirn gebunden hielt. Seine ersten kirchlichen Gegner in Wien haben also nicht ganz unrecht gehabt, wenn sie ihn als einen Materialisten bezeichnet haben; er war ein Mann, der die Existenz von Engeln, Geistern usw. leugnete und allenfalls eine Weltseele, einen pantheistischen Gott, anerkannte.

Gall blieb daher nur an den oberflächlichen Erscheinungsformen der Natur hängen, ohne in die Tiefen des Weltalls und der Materie, ohne in die Tiefen des Lebens und der Seele hinreichend einzudringen. Als Philosoph und Psychologe ist er freilich dennoch ein Bahnbrecher und zwar im notwendigen materiellen Sinne, jedoch nicht in der tieferen Philosophie und Psychologie. Diese Arbeit vollbrachte aber auch keiner seiner Schüler, und es ist die Arbeit, die bei allen Phrenologen übrig blieb und die in der Huterschen Psycho- Physiognomik zur vollsten Entfaltung kommt. Wenn die rein privaten Ansichten der Phrenologen Dr. Spurzheim und später auch des Dr. Scheve durchaus zu dem Glauben hinneigen, daß es fein materialisierte geistige Wesenheiten gibt, so ist das nicht in ihrer Phrenologie begründet. Es sind eben rein private Überzeugungen ohne Beweise.

Ich will daher Gall speziell noch einmal in seiner ureigenen Meisterschaft als Gehirnanatomen und Organologen ins Licht rücken, denn darin fühlte er sich zu Hause, und er wies die Annahme, daß er Schädelphysiognomiker sei oder Psychologe und seine Lehre mit dem Worte Kranioskopie bezeichnet werde, mit folgenden Worten zurück, Worte, die genau kennzeichnen, was Gall in erster Linie war und welchem Punkte er sich als der richtige Forscher fühlte.

Gall sagte: „Ich höre, daß die Herren Gelehrten das Kind getauft haben, ehe es auf der Welt war. Sie nennen mich eine Kranioskopen. Allein, fürs erste sind mir alle die gelehrten Wörter zuwider; fürs zweite ist das nicht der Titel, der mir gebührt und der mein Gewerbe gehörig kennzeichnet. Der Gegenstand meiner Untersuchung ist das Hirn; der Schädel ist es nur insofern, als er ein getreuer Abdruck der äußeren Hirnfläche ist, und er ist folglich nur ein Teil des Hauptgegenstandes. Es wäre also diese Benennung ebenso einseitig, als wenn man den Dichter einen Reimmacher hieße“*). Galls erste bedeutendsten medizinischen Gegner, soweit es seine Psychologie anbetrifft, sind zugleich Bewunderer seiner meisterhaften Gehirnsezier- und anatomischen Demonstrationsvorträge. Der französische Anatom und Physiologe Prof. Dr. med. Floureus schriebe über ihn: „Der profunde Beobachter, dessen Genius uns das Studium der Anatomie und Physiologie des Gehirns eröffnet hat. Ich werde nie den Eindruck vergessen, den ich erhielt, als ich das erste Mal Gall ein Gehirn sezieren sah. Es schien mir, als hätte ich dieses Organ noch nie gesehen.“

*) Aus einem Briefe Galls an Baron Retzer im „Deutschen Merkur“ 1798, im Anfang der Gallschen Entdeckungen.

So sehr dieser Mann Galls anatomisches Wissen schätzte, ebensosehr hat er seiner Psycho-Physiologie Schwierigkeiten in den Weg gelegt, ihm hat Gall die stärkste wissenschaftliche Bekämpfung seiner Lehre zu verdanken. Floureus lehrte nämlich, daß alle Teile der grauen Hirnmasse bei jeder geistigen Funktion gleichmäßig arbeiten.

Auch der Prof. Reil sagte über ihn: „Ich habe in Galls anatomischen Demonstrationen des Gehirns mehr gesehen, als ich glaubte, daß ein Mensch in seinem ganzen Leben entdecken könne.“ Galls erste bedeutendste anatomische Entdeckung ist der Faserbau des Gehirns. Er entdeckte Fasern, die vom Mittelpunkte, da, wo das Gehirn mit dem Rückenmark zusammenhängt, im Umkreise nach allen Seiten ausgehen. Das Gehirn sitzt demnach am Rückenmark ähnlich, wie die Blume des Blumenkohls am Stengel. Dr. Scheve schreibt: „Wenn das Gehirn dadurch, dass es einige Zeit in Weingeist gelegen hat, hart geworden ist, und man zerreißt es nach dem Laufe der Fasern, so erkennt man diese deutlich, wie man die Pflanzenfasern beim Zerreißen des Blumenkohls in seinen einzelnen Ästchen erkennt.“ Seit 1785 war Gall ausübender Arzt in Wien, der Mangel an hinreichender Praxis und die Liebe zur Wissenschaft führten ihn zu den wichtigen anatomischen Hirnstudien, Beobachtungen und Sammlungen. 1796 begann er seine Entdeckungen in Privatvorlesungen vorzutragen.

Dr. Scheve schreibt darüber: „Diese besuchten nicht nur die Studenten der Medizin, sondern auch viele ausübende Ärzte, die meisten Professoren der Heil- und der Naturkunde, viele Erzieher, Maler, Staatsbeamte, darunter auch Männer von der größten Gelehrsamkeit und dem größten Einflusse. Auch viele gebildete Damen schmückten sein Auditorium. Fünf Jahre lang hatte Gall*) diese Vorträge mit steigendem Beifall fortgesetzt. Da machte plötzlich ein kaiserliches Handbilett, welches dieselben untersagte, Galls öffentlicher Wirksamkeit in Wien ein Ende.“

„Darin war unter anderem gesagt, daß über die neue Kopflehre, von welcher mit so viel Begeisterung gesprochen werde, vielleicht manche ihren eigenen Kopf verlieren dürften, daß auch diese Lehre zum Materialismus zu führen scheine usw. Obgleich nun Gall eine ausführliche Verteidigung der von ihm vorgetragenen Wissenschaft einreichte, auch viele hohe Staatsbeamte sich für ihn verwendeten, so behielt es doch bei jenem Spruche sein Bewenden, und die Vorträge Galls wurden so auf immer in Wien eingestellt.“

Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1995. Update 24. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
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