Menschenkenntnis Lehrbrief V. - Part 4
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

5. Nur aus der verschiedenen Organisation beider Geschlechter erklärt sich, warum gewisse Kräfte bei dem Manne tätiger sind als bei dem Weibe.

Beide Geschlechter haben bei den Menschen und bei den Tieren dasselbe Gehirn und folglich auch dieselben Organe, nur ist gewöhnlich (obgleich auch Ausnahmen vorkommen) ein Organ bei dem einen Geschlechte mehr entwickelt als bei dem anderen. Die gegen den vorderen oberen Teil der Stirn liegenden Teile des Gehirns sind bei den meisten Frauen kleiner und daher die Stirne im allgemeinen kleiner und kürzer. Dagegen sind die an dem oberen Teile des Hinterhauptbeines liegenden Teile stärker entwickelt, aber das kleine Gehirn ist kleiner. Man kann daher als Grundsatz feststellen, dass bei den Frauen von gewöhnlichem Kopfbaue der Durchmesser von der Stirne zum Hinterhauptbein größer ist, alle anderen Durchmesser aber kleiner sind.

(Hinzugefügt)

Dies erklärt die höheren Verstandeskräfte des Mannes und die größere Kinderliebe des Weibes. Die Natur und nicht die Erziehung hat beiden Geschlechtern ihren Wirkungskreis angewiesen.

6. Wenn die Bildung des Gehirns bei verschiedenen Individuen ähnlich ist, sind die Neigungen und Talente ähnlich, wenn auch der übrige Körper noch so verschieden gestaltet ist, und wenn die Bildung des Gehirns verschieden ist, sind die Neigungen und Talente verschieden, so ähnlich auch sonst der Körper sein mag. Die Individuen aller Nationen haben alle die wesentlichen Teile des Gehirns, und daher findet man bei allen dieselben Neigungen, Talente, geistigen und moralischen Fähigkeiten. Die Verschiedenheiten sind bloß Modifikationen, wie die Verschiedenheiten der Gehirnbildung auch nur Modifikationen sind. Wenn gewisse Teile des Gehirns im allgemeinen sehr oder sehr wenig entwickelt sind, so bestimmen sie den Volkscharakter und die Gaben, welche ein Volk in besonderem Grade hat oder deren er beraubt ist. Man hat stets bemerken können, daß die Brüder und die Schwestern, welche sich am meisten gleichen und die nach der Kopfbildung dem Vater und der Mutter am meisten ähnlich sind, auch ihnen in geistiger Hinsicht gleichen.

7. Wenn die physische Konstitution sich von dem Vater auf die Kinder fortpflanzt, so teilen sie auch mit ihm in gleichem Verhältnisse die moralischen und geistigen Kräfte.

Seit Horaz hat man beobachtet, daß gewisse moralische Eigenschaften sich oft während Jahrhunderten in derselben Familie fortpflanzen, welches die enge Verbindung zwischen der Organisation und dem Körper beweist. Nicht allein gewisse Krankheiten, wie die Gicht, die Schwindsucht, die Taubheit, der Stein, sondern auch moralische Eigenschaften sind erblich. Glaubius spricht von einem Mädchen, dessen Vater einen heftigen Hang, Menschenfleisch zu essen, hatte und deswegen mehrere Mordtaten beging. Es war seit langer Zeit von dem Vater getrennt und lebte unter achtbaren Personen, unterlag jedoch ebenfalls dem Triebe, Menschenfleisch zu essen.

Glaubius schloß daraus auf die Erblichkeit gewisser moralischer Eigenschaften. Auch der Hang zum Diebstahl, zur Trunksucht und der Hang zum Selbstmord sind oft erblich. Ein neuer Beweis, daß die geistigen Anlagen in der Organisation liegen, da sie sonst nicht von Familie zu Familie fortgepflanzt werden könnten.

8. Der Zustand des Wachens, des Schlafes und die Träume beweisen ebenfalls, daß die Ausübung der geistigen Kräfte der Organisation untergeordnet ist.

Wenn eine geistige Kraft unabhängig von der Organisation die geistigen und moralischen Verrichtungen besorgte, wie könnte sie dann jemals vermindert, erschöpft werden und Ruhe und Schlaf nötig haben? Der Schlaf ist nichts anderes als die Untätigkeit und vollkommene Ruhe des Gehirns in gesundem Zustande. Während desselben sammelt das Gehirn neue Kräfte. Werden einige Organe des Gehirns durch irgendeine Ursache in Tätigkeit gesetzt, während die anderen untätig sind, so entstehen die Empfindungen und Gedanken, welche die Träume genannt werden.

Die Art des Traumes steht fast immer im Verhältnis mit der physischen Gesundheit des Individuums. Ein junger Mann träumt von Vergnügungen und angenehmen Ereignissen, ein alter Mann oder eine alte Frau findet im Träume nur Hindernisse und Widerwärtigkeiten. Man träumt, an einer Entzündung der Eingeweide gestorben zu sein, und hat beim Erwachen Leibschmerzen. Ebenso ist es mit dem Somnambulismus.

9. Alles, was den Organismus und besonders das Nervensystem merklich verändert oder schwächt oder reizt, bewirkt auch bedeutende Veränderungen in der Ausübung der geistigen Kräfte.

Zu schnelles Wachstum oder eine zu schnelle Entwicklung der Organe schwächt ihre besonderen Verrichtungen. Dies geschieht besonders oft in den Stufenjahren, wobei Körper und Geist zugleich leiden. Man ist in diesen zu einem anhaltenden Fleiße unfähig, und der Unterricht ist stillstehend. Dieser Zustand hört nur dann auf, wenn die Entwicklungsperiode vorüber ist.

Entwickeln sich die geistigen Organe zu frühe und werden sie in zu großer Tätigkeit erhalten, so erfolgt oft eine unheilbare Erschöpfung und Lähmung dieser Organe, und daher werden die frühzeitigen Genies nur mittelmäßige Köpfe und selbst einfältig, wenn die Erschöpfung den höchsten Grad erreicht hat. Schwache Anlagen, besonders bei Kindern, welche Wasser in den Höhlungen des Gehirns haben, kräftigen und entwickeln sich oft auf eine vorteilhafte Weise, wenn das Gehirn ganz ausgewachsen und konsistent geworden ist. Dagegen nehmen bei Wasserköpfen mit der Zunahme des Übels die geistigen Kräfte ab. Bei den ausgewachsenen Tieren und Menschen haben auch die Organe zu verschiedenen Perioden eine ganz verschiedene Tätigkeit, je nachdem die Organe durch den Einfluß der Jahreszeiten, der Wärme, der Nahrung und besonders durch die dem Organismus eigenen Gesetze oder den mehr oder weniger vorhandenen Zufluß der Flüssigkeiten gereizt werden. Aus diesen Gründen verschwinden zu gewissen Zeiten die industriellen Fähigkeiten und Triebe der Tiere, als der Tieb zur Zeugung, zum Singen, Bauen, Auswandern, sich zu isolieren oder in Herden zu versammeln, sowie Früchte aufzuspeichern. Ebenso ist es mit dem Geiste des Menschen und besonders der Frauen. Malebranche bemerkt, daß zu verschiedenen Zeiten derselbe Gegenstand auf uns nicht den gleichen Eindruck macht und verschieden beurteilt wird. Da nun der Gegenstand sich nicht verändert hat, so ist mit den Organen eine Veränderung vorgegangen. Wie verschieden ist unsere Art zu denken und zu empfinden in dem Augenblick, wo unsere Sinne erhitzt sind, und einige Augenblicke später, wenn sie ruhiger oder befriedigt sind! Welchen Einfluß haben auf unsere Tiebe und Kräfte, auf den Willen und das Urteil die verschiedenen Affektionen, als der Zorn, der Haß, die Eifersucht, die Niedergeschlagenheit, die Traurigkeit, der Gram, Schrecken, Neid, die Unruhe, die Furcht, das Mitleiden oder Verlangen, die Freude? Wer kann den Einfluß oder die Gegenwart der periodischen Ausleerungen leugnen, als der Reinigung der Hämorrhoiden, der Schwangerschaft, zurückgehaltener Ausleerungen, unterdrückter Sekretionen, der Nahrung und Verdauung, der unmäßigen Ergießung des Samens, der Milch, des Blutes; endlich des langen Fastens, Wachens, zu langen und zu einförmigen Nachdenkens? Ebenso haben eine bedeutende und nahe Veränderung in der Temperatur, besonders wenn ein Sturm im Anzuge ist, die Kastration, die Krankheiten oder Zeugungsteile, der Gebärmutter und der anderen Eingeweide, die Entzündungen und Eiterungen im allgemeinen und die des Gehirns im besonderen, seine Geschwüre, Verwundungen und Erschütterungen, die betäubenden und reizenden Gifte, die Wut, die Würmer usw. bedeutenden Einfluß, wie auch angenehme Empfindungen, ein heiterer Himmel, ein schönes Klima, Musik, Tanz, Seelenruhe usw.

Alle diese Ursachen und viele andere bewirken die auffallendsten Veränderungen in der Ausübung unserer geistigen und moralischen Kräfte, und doch wirken sie nur unmittelbar auf unseren Organismus. Muß man nicht daraus schließen, wenn in gewissen Fällen diese Ursachen die ungewöhnlichsten Neigungen, z.B. die schamloseste Unzucht, eine untröstliche Verzweiflung, den anmaßendsten Stolz, das größte Mißtrauen und selbst einen Hang, Verbrechen zu begehen, zur Folge haben, daß das Prinzip aller Tiebe angeboren ist, und daß die Stärke der Äußerungen desselben auch seinen Ursprung in einer Störung unserer Organisation hat? Ich werde bei Gelegenheit Beispiele anführen und begnüge mich für jetzt nur mit folgendem:

Der Pater Mabillon hatte von Kindheit an sehr beschränkte Fähigkeiten, bis er eine starke Wunde am Kopfe erhielt. Nun zeigte er sehr hohe Talent. Auf unseren Reisen sagte man uns von zwei sehr bekannten jungen Leuten, denen dasselbe widerfahren war. Der eine machte bis zu seinem 13. Jahre keine Fortschritte. Er fiel eine Stieg herab, stieß sich mehrere Löcher in den Kopf und setzte nach der erfolgten Heilung seine Studien mit ausgezeichnetem Erfolge fort. Der andere gab in seinem 14. bis 15. Jahre ebenfalls wenig Hoffnung, fiel in Kopenhage von einer Stiege und zeigte von nun an große Fähigkeiten. Zugleich ward aber sein Charakter, was man früher nicht bemerkte, sehr schlecht, so daß er endlich einen hohen Posten verlor und in ein Gefängnis eingesperrt wurde. Ich kenne ein 9 jähriges Mädchen, das an der rechten Seite des Kopfes einen Schlag erhalten hatte. Seitdem beklagte sie sich über einen Schmerz an der linken Seite des Kopfes, an der Stelle, die mit der, welche den Schlag erhielt, korrespondierte. Nach und nach wurde ihr Arm schwach und fast ganz gelähmt, der untere Kiefer zitterte ohne Aufhören und sie hatte oft Konvulsionen. Dagegen erreichten ihre geistigen Kräfte eine ungewöhnliche Kraft, und obgleich sie nur elf Jahre alt war, hätte sie nach den Zügen des Gesichts und ihrer Ausführungen für eine vollendete Frau gegolten. Grétry erhielt sein musikalisches Talent durch eine heftige Verwundung am Kopfe. Haller spricht in seiner Physiologie von einem Einfältigen, der, solange seine Wunde am Kopfe nicht geheilt war, bei Verstande war, und als dies geschah, wieder so einfältig als früher wurde. Dasselbe ist auch bei anderen Organen der Fall. Haller spricht von einem Kranken, der bei seiner Augenentzündung so gut sah, daß er selbst während der Nacht gut sehen konnte.

Bei allen trägen Organen und bei denen, deren Entwicklung unvollständig ist, entwickelt und verstärkt eine Anreizung die Kräfte sehr. Zugleich zeigen diese Beispiele, daß die geistigen Anlagen angeboren sind und von der Organisation*) abhängen.

*) Gall meint hiermit nur die Gehirnorgane.

Im Zustand der Gesundheit fühlt der Mensch nicht, daß seine geistigen Kräfte durch materielle Organe wirken, ebensowenig als er die Verdauung, die Ernährung und die Abscheidung der Säfte bemerkt, die doch auch durch körperliche Organe geschehen. Unbekümmert um sich selbst und die Erscheinungen, die sein Wesen darbietet, denkt er kaum daran, daß die Verschiedenheiten, die nach seinem Alter in der Ausübung seiner Triebe und Kräfte stattfinden, die Folgen von Veränderungen seines Organismus sind, hält die Vernunft für unabhängig von den Sinnen und Organen und erhebt sie zu dem Range der uranfänglichen und reinen Kräfte. Im Gegenteil, dazu wird der Beobachter der Natur, der aus Erfahrung den Ursprung und das Ganze des menschlichen Lebens kennt und die stufenweise Vervollkommnung, die von dem Tiere bis zum Menschen stattfindet, wird stets von dem Einfluß des Organismus benachrichtigt. Alles zeigt, daß der Mensch nicht sich selbst gemacht hat, was seine geistigen Kräfte betrifft, und daß er, wenn er auf die Welt kommt, nicht von sich selbst abhängig ist. Malebranche sagt mit Recht, daß der Geschmack der Nationen und Individuen für verschiedene Arten von Musik größtenteils von der Verschiedenheit der Organisation herkommt; dass im allgemeinen unsere Triebe und Fakultäten von derselben Ursache abhängig sind, und daß man daher seine Zeit nicht besser anwenden kann, als die materiellen Ursachen aufzusuchen.

Hoffen wir, daß man endlich erkennen wird, wie Bonnet in seiner Palingenesie sagt, daß man nur durch die Physik ins Moralische des Menschen eindringen kann, und daß also die Grundlage aller Philosophen des menschlichen Geistes die Kenntnis der Verrichtungen des Gehirns ist.

ZWEITER TEIL DES LEHRSTOFFES
Das System der Gallschen Phrenologie und seine wissenschaftliche Begründung durch anatomische, physiologische und pathologische Beweise und der Einfluß des Gehirns auf die Gestalt des Schädels

Aus der Schädelform ist demgemäß der Gehirnbau, aus diesem der Gehirnorganbau mit den materiellen geistigen Grundkräften – aus der Schädelform also der Charakter zu erkennen.

Die goldenen Wahrheiten, welche in der Gallschen Lehre „Phrenologie“ zusammengetragen sind, möchte ich besonders in diesem Abschnitte durch Galls eigene scharfsinnige Beweisführung vor Augen führen.


A. Anatomische Beweise für die Mehrheit der Organe der Seele

Erster Beweis: Die Geisteskräfte eines Tieres sind um so zahlreicher, je zusammengesetzter seine Gehirn ist.

Dieselbe fortschreitende Ausbildung, die in dem Tierreiche hinsichtlich des vegetativen Lebens stattfindet, bemerkt man auch an dem Nervensystem und an dem davon abhängenden tierischen Leben. Von dem einfachsten einsaugenden Gefäße bis zu den zusammengesetztesten Werkzeugen zum Kauen, Schlingen und Verdauen und dem vollkommensten Säfteumlaufe findet man bei jedem neue Werkzeuge eine neue Vorrichtung, und diese Vorrichtung ist um so zusammengesetzter, je vollkommener das Eingeweide oder der Sinn ist. Magen, Nerven, Lungen, Herz, Auge, Ohr usw. sind um so zusammengesetzter, je verwickelter ihre Verrichtungen sind. Dieselbe Stufenleiter läßt sich auch von dem Gehirn der verschiedenen Tierarten nachweisen. Früher zeigte ich, daß das Vorhandensein irgendeiner moralischen Kraft nur von dem Dasein gewisser bestimmter Gehirnteile*) abhängt und keineswegs von der Gesamtmasse des Gehirns. Hieraus folgt, dass die Anzahl der Kräfte in geradem Verhältnisse zu den integrierenden, d.h. zur Vollständigkeit notwendigen Teilen des Gehirns steht. Bei den Kerfen (Insekten), Fischen und Amphibien ist die Nervenmasse in dem Becken des Gehirns noch in mehrere besondere Masse geteilt. Die meisten dieser Massen sind keine integrierenden Teile des eigentlichen Gehirns, sondern Nervenknoten (Ganglien), aus denen die Seh-, Gehör- und Geruchsnerven usw. entspringen. Beide Hemisphären liegen hinter den zwei Nervenknoten (Ganglien) des Geruchsnervs und sind um so zusammengesetzter, als die instinktartigen Kunsttriebe zahlreicher sind. Das kleine Gehirn bildet bei diesen Tieren gewöhnlich eine hohle Tasche, die manchmal wagrecht liegt und manchmal auf sich selbst zurückgebogen ist.

*) Diese Gallsche Auffassung, daß nichts von der Masse, sondern von bestimmten Teilen des Gehirns bestimmte Grundneigungen abhängen, ist richtiger und Galls bedeutendste Entdeckung.


Bei den Vögeln sind beide Hemisphären schon größer, doch entdeckt man noch keine unterschiedenen Windungen. Das kleine Gehirn besteht bloß aus dem mittleren oder Hauptteile, scheint aber schon aus mehreren nebeneinander gesetzten Ringen zu bestehen.

Bei den kleinen Säugetieren, bei den Mäusen, Ratten, Eichhörnchen, Wieseln usw. kann man auch noch keine Windungen unterscheiden. Doch darf man annehmen, daß sie vorhanden sind, da man sie bei anderen, weniger kleinen Nagetieren, z.B. dem Biber und dem Känguruh, findet.

Bei den größeren Säugetieren, der Katze, dem Marder, dem Baummarder, Fuchs, Hund, Affen werden die Windungen immer kenntlicher und zahlreicher, aber ihre Form ändert sich nach der Tierart ab. Bei dem Delphin, dem Elefanten und dem Menschen sind die Windungen weit zahlreicher und weit tiefer als bei dem Biber, dem Känguruh und der Katze.

Bei allen Säugetieren findet man noch außer dem mittleren oder Fundamentalteil zwei Seitenteile, welche nach der Tierart mehr oder weniger zusammengesetzt sind, und da die sogenannte Brücke des Varols oder der sogenannte Gehirnnervenknoten, d.h. die querdurchgehende Lagen von Nervenbündeln, nichts anderes als die Folge oder die Vereinigung der beiden Seitenteile des Gehirns ist, so fehlt diese allen eierlegenden Tieren, findet sich dagegen bei den Säugetieren.

Die Zahl der integrierenden Teile oder der Windungen des Gehirns ist bei den verschiedenen Arten von Säugetieren veränderlich. Bei gewissen Arten sind die vorderen Lappen der Hemisphären abgeplattet oder zurückgebogen, bei anderen sind sie weit breiter oder erhabener, bei anderen fehlen die unteren Teile der vorderen Lappen fast gänzlich. Die mittleren Lappen und die anderen Windungen bieten dieselben Abweichungen dar. Auf diese Weise nehmen die integrierenden Teile des Gehirns an Zahl und Entwicklung in dem Maße zu, als man von einem weniger vollkommenen Tiere zu einem vollkommenen übergeht, bis man endlich zum Gehirn des Menschen kommt, welches in den vorderen oberen und in den oberen Regionen des Stirnbeins Teile hat, die die anderen Tiere nicht besitzen und durch welche der Mensch der ausgezeichneten Gaben teilhaftig wird: der Vernunft und des Gefühls für Religion und das Dasein Gottes.

Man kann bei Betrachtung dieses Ganges der Natur keinen Augenblick daran zweifeln, daß jeder Teil des Gehirns nicht verschiedenen Verrichtungen dient und daß das Gehirn der Tiere und Menschen so viele Teile haben müsse, als sie unterschiedene moralische und geistige Kräfte, Triebe, Künste und Fähigkeiten haben.


Zweiter Beweis: Die Ähnlichkeit der Bildung des Gehirns und der der anderen Nervensysteme beweist, daß das Gehirn aus mehreren Organen besteht

Die Nervensysteme des vegetativen oder automatischen Lebens, das Rückenmark oder die Werkzeuge des Nervensystems der freiwilligen Bewegungen, die Nervensysteme der Sinnesorgane, sind jedes aus verschiedenen Organen zusammengesetzt, welche besonderen Eingeweiden, einer besonderen freiwilligen Bewegung oder einem eigenen Sinne vorstehen.

Jede dieser Unterabteilungen hat ihren Ursprungs-, ihren Verstärkungsapparat, endlich Punkte, wo sie in einem Eingeweide oder in einem oder mehreren Muskeln, in einem äußeren Organ der Sinne sich verliert. Vermittelst dieser Anordnung hat jedes besondere Nervensystem seine eigene Verrichtung, und keines dieser Systeme kann in seinem Verrichtungen durch ein anderes ersetzt werden. Dasselbe Gesetz gilt von der Anordnung des Gehirns. Die Windungen als Erweiterung der Gehirnfasern und der Gefäßbündel empfangen, sofern sie ein Organ bilden, ihre Fäserchen von verschiedenen Regionen und verschiedenen Verstärkungsapparaten, als z.B. von den Sehhügeln, den sogenannten gestreiften Körpern oder von verschiedenen Punkten dieser Teile.

Nicht alle Verletzungen des Gehirns äußern ihre Wirksamkeit auf der entgegengesetzten Seite, wie es bei der Verletzung der Teile stattfindet, welche die Fortsetzung der pyramidalischen Körper sind; man muß daraus schließen, daß nicht alle Gehirnteile denselben Ursprung haben, oder mit anderen Worten, daß es Teile des Gehirns gibt, deren Fäserchen sich an ihrem Ursprung durchkreuzen, und andere, deren Fäserchen sich nicht durchkreuzen. Dieses Zusammentreffen des Baues des Gehirns mit dem der anderen Systeme beweist, daß die Natur bei Bildung des Gehirns die Absicht hatte, mehrere Organe zu schaffen, ebenso wie sie dieselbe Absicht hatte, indem sie die Unterabteilungen in den anderen Nervensystemen machte.


Dritter Beweis: Die auffallenden Verschiedenheiten des Baues des Gehirns bei den verschiedenen Tieren stehen in bezug zu den besonderen Verschiedenheiten in ihren Verrichtungen

Bei den Tieren besteht das Gehirn fast nur aus den an die Seiten und hinten liegenden Teilen. Aus diesem Grunde geht der Kopf sogleich von den Augen an rückwärts.

Nur den edelsten Tieren gab die Natur gegen den vorderen unteren Teil liegende Teile des Gehirns, und daher haben diese, wie gewisse Affen und Hunde, eine mehr oder weniger große Stirn.

Da der Mensch mit bedeutenden vorderen oberen und vorderen unteren Gehirnteilen begabt ist, so wird seine ganze Stirn breit unmittelbar über dem Auge gewölbt, geht über dasselbe vorn heraus und erhebt sich in einer mehr oder weniger senkrechten Richtung. Nun ist es ausgemacht, daß die den Menschen und Tieren gemeinen Fähigkeiten ihren Sitz in den Seiten- und hinteren Teilen des Kopfes haben, und in dem Maße, als die Tiere einige untere vordere Gehirnteile erhalten haben, genießen sie auch einige Verstandeskräfte; kein Tier ist aber mit allen Teilen des Gehirns versehen, die in dem oberen vorderen und hinteren oberen Teil des Stirnbein liegen, und daher hat auch keines die mit diesen Teilen verbundenen Gaben, keines Vernunft, noch ist eines religiöser Ideen fähig.

Wenn die beiden Geschlechter einer Tierart besondere Verschiedenheiten in ihren Trieben und Gaben zeigen, unter-scheidet sich ihre Kopfgestalt auf eine ebenso bemerkliche Weise. Das Gehirn des Weibes ist gewöhnlich in den oberen vorderen Teilen wenig entwickelt, und daher ist die Stirne der meisten Frauen schmäler und nicht so hoch als die der Männer. Die Gehirnteile dagegen, welche Liebe zu den Kindern oder Jungen veranlassen, sind gewöhnlich bei dem Weibe und den Weibchen der Tiere weit größer als bei dem Manne und den männlichen Tieren.

Auch bei den verschiedenen Tierarten bestätigt sich dies. Vergleicht man das Gehirn der fleischfressenden mit dem der pflanzenfressenden Tiere, so findet man bei ersterem besonders in den mittleren Lappen bedeutende Gehirnmassen, welche bei letzterem fehlen. Man vergleiche das Gehirn des Hundes mit dem der Katze, des Marders, der Fischotter, das Gehirn des Hengstes mit dem des Stieres, Hirschen usw., und man wird sich vollkommen überzeugen, daß eine wesentliche Verschiedenheit in der Zusammensetzung des Gehirns auch eine wesentliche Verschiedenheit in dem Charakter des Tieres mit sich bringt.

Man vergleiche ferner das Gehirn verschiedener Tierarten, deren Gehirnmasse beinahe gleich groß ist, die aber wesentlich verschiedene Sitten haben, z.B. den Hund mit dem Schwein, der Ziege usw., und man wird sich überzeugen, daß das Volumen des Gehirns dasselbe sei, die Verrichtungen aber ganz verschieden und entgegengesetzt sein können, daß daher nicht die Menge oder das Volumen*) des Gehirns, sondern die Beschaffenheit oder die Wahl der Teile, aus denen es besteht, es ist, welche die Instinkte, Triebe und Grundtalente bestimmt. Wer nur ein Dutzend Gehirne von verschiedenen Tieren untersuchen will, wird finden, daß die verschiedenen Gehirnteile verschiedene Verrichtungen haben und das Gehirn demnach aus mehreren Organen besteht.

*) Hier läßt Gall den Grundsatz von der Größe des Gehirns fallen und betont dafür die Verschiedenartigkeit der Einzelteile bei gleich großen Hirnen als Merkzeichen der verschiedenen Triebe.



B. Physiologische Beweise von der Mehrzahl der Organe der Seele

Erster Beweis: Bei allen organisierten Wesen setzen verschiedene Erscheinungen verschiedene Apparate voraus; also setzen auch die verschiedenen Funktionen des Gehirns verschiedene Organe voraus

Bei den Pflanzen entstehen die verschiedenen Eigenheiten aus der Verschiedenheit der sie bildenden Teile und der Formen. Es gibt soviel verschiedene und abweichende Formen der Teile einer Pflanze, als sie Verrichtungen zu erfüllen hat. Dasselbe Gesetz ist auch auf das Tierreich anwendbar. Auch hier wird jede verschiedene Erscheinung durch verschiedene materielle Bedingungen hervorgebracht. Die Ernährung, Sekretion, Exkretion, der Säfteumlauf, das Atmen, die Zeugung, alle Verrichtungen endlich geschehen durch damit übereinstimmende Instrument. Keine besondere freiwillige Bewegung, keine besondere Empfindung kann ohne eine besondere materielle Bedingung stattfinden. Endlich muß die Natur ebensoviel äußere Sinne schaffen, als die Tiere oder der Mensch wesentlich verschiedene Eindrücke empfangen sollen.

Nun sind augenscheinlich die Qualitäten und Kräfte, die durch das Gehirn verrichtet werden, bei den Menschen und Tieren wesentlich verschieden.

Die Affekte sind wesentlich von den Verstandeskräften, jeder Instinkt, jeder Trieb, jede Empfindung, jede Fakultät ist von der anderen verschieden. Der Instinkt zum Singen ist verschieden von dem, zu bauen und zu reisen; der Hang sich fortzupflanzen, der Mordsinn, die Jungenliebe, die Empfindung des Stolzes ist eine ganz andere als die der Andacht, und wer würde das Talent für Baukunst mit dem für Musik, das Talent der Malerei mit dem der Dichtkunst, das Ortsgedächtnis mit dem Beobachtungsgeiste verwechseln?

Gall widerlegt die Einwürfe verschiedener Gelehrten, welche behaupten, man könne von der körperlichen Welt keinen Schluß auf die Verrichtungen der Seele machen und diese auf eine einzige zurückführen.


Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1995. Update 24. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
Hauptwerk - Lehrbrief 5 (von 5)
 
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