Leonardo Da Vinci: Abendmahl/last supper - Part 4
 
Fortsetzung

Physiognomik des Kopfes.

Wie die Kenntnis der Bedeutung der Gesamtkörperform, des Naturells, so ist auch die Kenntnis der Bedeutung der Physiognomie des Kopfes und seiner Einzelteile notwendig für die Erschließung von Einzelheiten mancher Kunstwerke. Näheres findet der Leser bei der Besprechung der Abbildungen weiter unten. An dieser Stelle weitere theoretische Ausführungen zu machen, verbietet der Rahmen und Zweck dieser Arbeit. Mit der Abbildung des psycho-physiognomischen Kanons und einigen daran schließenden Erklärungen muß ich es leider bewenden lassen.

Figur 7: Psycho-physiognomischer Kanon*) 

*) Entnommen aus dem "Handbuch für Menschenkenntnis".

Der obige Kanon Huters zeigt die wichtigsten psycho-physiognomischen Daten, die der Leser heranziehen wolle zum Verständnis für die im Texte ausgegebenen Merkzeichen. Er ist ein bewunderswertes Meisterwerk physiognomischer Kunst. Die Erkenntnisse, die in ihm niedergelegt sind, basieren auf der modernen Naturforschung. Zur Zeit der Veröffentlichung, vor ungefähr einem Menschenalter, soll man viel darüber gespottet haben, wie man es auch den Entdeckungen eines Grafen Zeppelin, Columbus und vielen anderen Großen gegenüber getan hat. Inzwischen aber verlernte man das Lachen immer wieder, und Achtung und Bewunderung trat an dessen Stelle. Ich habe bereits genügend darauf aufmerksam gemacht, daß in Huters System die Entdeckungen der physiognomischen Forscher vor ihm mit enthalten sind. Damit nun derjenige geschätzte Leser, dem diese Materie bisher fremd war, sich doch einigermaßen zurechtfinden kann auf dem Kanon, will ich mich bemühen, noch einige nähere Erklärungen zu geben. Eingehene Erklärungen, speziell zum Kanon, sind außer in den Originalwerken Huters, in den "Grundlagen der Menschenkenntnis" von Amandus Kupfer, 2. Bd., zu finden.

Die im Kanon verzeichneten physiognomischen Daten zeigen an, welche Charaktereigenschaften sich an den verschiedenen Stellen unseres Kopfes offenbaren. Sie auf den normalen, bildungs- und entwicklungsfähigen Menschen anzuwenden, ist nicht die größte Schwierigkeit, vielmehr bei den Variationen beginnt sie. Wenn man irgend eine Stelle des Kopfes mit Hilfe des Kanons deuten will, muß man sich zunächst vergegenwärtigen, was prinzipiell von der Seite unseres Charakters dort zu erkennen ist, und dann die Abweichungen vom Normalen zu deuten versuchen, und zwar möglichst durch eine kurze und knappe Erklärung und nicht durch langatmige Umschreibungen. Ich will zwei Beispiele, eines aus dem Gesichts- und eines aus dem Gehirnschädelteil, willkürlich herausgreifen, um zu zeigen, wie dies anzufangen ist.

Der interessierte Leser sieht zwischen der Nasenspitze und dem Nasenhöcker den Begriff "Gemütszustand" verzeichnet. Wenn diese kleine Stelle der Nase leicht eingebogen ist, eine gute Strahlung und ein sammetweiches Gewebe hat, so deutet es auf ein mildes und sanftmütiges Wesen. Ist die Nase hier nicht eingebogen, sondern gerade oder grobporig im Hautgewebe, so verrät dieses eine strengere, härtere Veranlagung. Ist sie hier aber herausgebogen und das Hautgewebe hart und strahlungsarm, so ist es ein Zeichen von Rohheit bis zur Grausamkeit und Gewissenlosigkeit. Ist diese Stelle zu weich und übermäßig tief eingebogen, dann deutet es auf übergroße Weichheit und Gefühls-Ueberschwenglichkeit. An diesem Beispiel hoffe ich gezeigt zu haben, daß der Begriff "Gemütszustand" treffend gewählt ist und einen neutralen Charakter hat. So ist es mit allen anderen verzeichneten Begriffen auch. Es ist immer die Art und Weise des physiognomischen Ausdrucks im Lichte des Normalen zu deuten. Nun zum zweiten Beispiel. Wir sehen im Scheitel des Kopfes "Ehrfurcht" vermerkt. Je höher das Gehirn (Entfernung des Scheitels vom Ohrloch), im Verhältnis zur Länge des Gesichtsschädels und je feiner der Kopf an dieser Stelle gerundet ist, desto mehr erweist ein Mensch Bescheidenheit, Dankbarkeit, Ehrerbietung und Demut, sowohl seinen Mitmenschen, als auch dem Fernsten und Feinsten, dem Göttlichen, gegenüber. Ist der Schädel aber niedrig, flach, eckig oder hart gebildet, so ist der Mensch unbescheiden, undankbar und religiös indifferent. Wenn bei einem Menschen alle einzelnen Teile untersucht und gedeutet sind, müssen die gefundenen charakterologischen Resultate kombiniert werden, wodurch dann ein Charakterbild zustande kommt.


Die Mittelhirnregion.

Als "Mittelhirnregion" bezeichnet Huter das Hautgewebe nahe Mund und Nase. Sie zeigt in ihrer physiognomischen Beschaffenheit den Zustand des Mittelgehirns, des "Lebensgefühlsgehirns", an und ist der physiognomisch aufschlußreichste und somit charakterologisch wichtigste Teil des ganzen Körpers. Die physiologische Bedgründung für diese Tatsache hat Huter einzigartig geführt. In der folgenden Abbildung (Fig. 8) ist die Mittelhirnregion durch die Linie angedeutet. Im Leben ist sie oft an der viel helleren Hautfarbe gegenüber den übrigen Wangenteilen zu erkennen. Zur Mittelhirnregion gehört der so von Huter bezeichnete "Nasen-Wangen-Zug". Er zieht sich seitwärts, ungefähr von der Mitte der Nase in die Wangen hinein. (s. das kleine Kreuz in Fig. 8)

Figur 8: Die Mittelhirnregion
Quelle: Hörzu, Heft 30. 2001. (Hinzugefügt)

Feinempfindende, edle Menschen haben hier eine schöne Plastik des Gewebes. Dagegen weisen bösartige Naturen hier disharmonische Züge auf. An dieser Stelle soll die Haut plastisch hervortreten. Nicht selten ist bei verbrecherischen Menschen der Nasen-Wangen-Zug hart und eingefallen, also hohl statt gewölbt (s. Figur 9). In den Meisterwerken großer Maler und Bildhauer kann man diese Tatsachen studieren.



Figur 9: Studien zur Mittelhirnregion bei Verbrechern*) 

*) Entnommen aus: Roscher "Die Großstadtpolizei".

Auf dieses physiognomische Merkzeichen hat interessanterweise außer den großen Künstlern, weder Lavater, Lombroso noch irgend ein anderer Physiognom bisher geachtet. In der Mittelhirnregion zeigen sich auch die Merkmale des Sterbevorganges am deutlichsten, was vor beinahe 2500 Jahren der griechische Arzt Hippokrates schon beobachtet hat (Hippokratisches Sterbegesicht).


Die Spannung.

Auch diesen Begriff, den Huter in die physiognomische Wissenschaft eingeführt hat, möchte ich erwähnen, da derselbe bei den Besprechungen ebenfalls des öfteren angewandt wird. Die Beurteilung der Spannung eines ganzen Körpers oder einzelner Teile ist von nicht zu unterschätzender physiognomischer Bedeutung. Die Spannungsvorgänge sind nach Huter rein mechanisch zu erklären. Die Festigkeit der Gewebe, die gestraffte Haltung eines ganzen Körpers, die Härte der Konturen sind Ausdrucksformen hoher Spannung. Der Turgor der Pflanzen (der Druck, den die Pflanzensäfte auf die Gefäßwandungen ausüben), auch der Tonus der Muskeln bei den Tieren sind Erscheinungen, die nach ihm unter den Spannungsbegriff fallen. Der Grad der Spannung gibt die Widerstandsfähigkeit an.


Farbenlehre.

Die Farben sind, wie die Formen, Funktionen von Naturkräften. Im Vergleich zu den modernen Lehren Wilhelm Ostwalds über die Farben ist Huter mehr in die Tiefe gegangen, jener in die Breite. Huters Lehren beziehen sich vor allen Dingen auf die charakterologische Deutung der Farben. Es handelt sich also bei ihm um die Erklärung des Zusammenhanges zwischen Körperfarbe und innerem Seelenleben. Auch hier ist eine Physiognomik und Mimik zu unterscheiden. Die konstanten Farbtöne der verschiedenen Naturelle, Geschlechter, Rassen sind der Ausdruck konstanter Charaktereigenschaften. Die momentanen Veränderungen der Farben im Gesicht werden von vorübergehenden seelischen Regungen hervorgerufen. In Bezug auf die Malerei möchte ich betonen, daß in den von ihnen gewählten Farbtönen sich das Seelenleben der Maler spiegelt. Auch hier gibt sich wieder eine Gesetzmäßigkeit kund, die im Lichte der Naturellehre zu erkennen ist.


Die Physiognomik des Hautgewebes.

Die "Gewebsphysiognomik" spielt bei Huter eine wichtige Rolle, und zwar aus biologischen, philosophischen und physiognomischen Gründen. Bezüglich der Physiognomik schon darum, weil die Haut die Bedeckung der Körperoberfläche ist, die ja gerade den Hauptgegenstand der physiognomischen Wissenschaft bildet. An der Oberfläche der Körper kommt nach Huter nicht nur das Seelenleben bis in alle Feinheiten zum Ausdruck, sondern auch zur Blüte und Entfaltung und nicht im Innern, etwa im Herzen oder Gehirn, wie es eine veraltete Anschauung bisher lehrte.

Unser Forscher vertrat in der Nervenentwicklungslehre den Standpunkt, daß das letzte Entwicklungsstadium des Nervensystems in der Verfeinerung der Haut mit den Sinnesorganen besteht und daher man am Grade der Feinheit der Haut und der Sinnesorgane, der Oberflächenbildung eines Lebewesens, auch den Grad der jeweiligen Sensiblität erkennen kann. So hat z.B. kein Tier eine so feine Hautbildung wie der Mensch. Des Menschen schwache Behaarung ist ebenfalls von Bedeutung. Tiefstehende, geistig stumpfe und träge Tiere wie die Schildkröte und das Krokodil haben einen dicken Panzer, höherstehende Tiere von größerer geistiger Regsamkeit eine feinere Oberflächenbildung. Man bezeichnet geistig träge Menschen treffend nicht nur als "stumpfsinnig", sondern auch bildlich als "Dickhäuter".

Huters Entdeckungen zeigen, daß man der Hautbildung bisher eine viel zu geringe psychophysisologische und auch physiognomische Bedeutung beigemessen hat. Man hat in ihr fast nur ein Stoffwechselorgan gesehen; sie ist aber zugleich Bewußtseinsorgan.

Die Maler und Plastiker sind auf das Studium der Oberflächenbeschaffenheit der Körper auf jeden Fall angewiesen, um erkennen zu können, wie sich das innere Wesen derselben in Form und Farbe offenbart. Die Differenzierung und Gliederung der Oberfläche, die Feinheit oder Grobheit der Sinnes-organbildung, die Farbe, die Bewegungen, die Festigkeit oder Weichheit der Haut und die Veränderungen aller dieser Elemente müssen genauestens studiert werden, sowohl vom bildenden Künstler, Kunstforscher, als auch vom Berufscharakterologen.


Die Lebenskraftstrahlung und die feingeistige Physiognomie.

Die Bedeutung der Lebenskraftstrahlung für die Physiognomik ist bereits erwähnt worden (s.S.16 hier web). Im Anschluß daran ist noch zu betonen: Außer der Quantität der Formen, der Massigkeit und Größe, muß auch die Qualität, der Wert der einzelnen Formen in der Feinheit des Hautgewebes (Gewebsphysiognomik) beachtet werden. Daß die bisherigen physiognomischen Lehren bis auf Huter sich nicht genügend durchzusetzen vermochten, ist nicht zum geringsten Teil auf Grund des Uebersehens des Qualitätsprinzips, das sich in der "feingeistigen Physiognomie" offenbart, zurückzuführen. Allerdings ist dieses besser am lebenden Objekt zu erklären als an Zeichnungen oder Photographien. Die Physiognomik ist wie die Anatomie am besten durch Anschauungsunterricht zu erlernen. Die schöne Formulierung: "Feingeistige Physiognomie" stammt von Huter.

Die Lebenskraft ist es also, welche die feingeistige Physiognomie schafft. Sind die Physiognomen vor Huter über dieses Phänomen hinweggegangen, so hat es begreiflicherweise die Aufmerksamkeit großer Kunstforscher seit langem auf sich gezogen. Wir kommen auf den Punkt in der Aesthetik, der die wellenartige, gekrümmte oder S-förmige Linienführung der Oberflächen der organischen Körper betrifft. Die Ausführungen der Forscher auf diesem Gebiet haben bisher nicht genügend Verständnis gefunden. An Hand der Biologie und der Physiognomik ist nunmehr über diese Frage naturwissenschaftlich zu diskutieren, sodaß er allgemeinverständlich dargestellt werden kann.


Figur 10		Figur 11


Mundprofilstudien.

Vergleicht der Leser die beiden Zeichnungen Fig.10 und 11*), die Huter von dem wenig bekannten deutschen Physiognomen H. Bossart († um 1880), übernommen hat, so findet er Folgendes: Fig.10 zeichnet sich durch feinste, gerundete Differenzierungen der ganzen Umrißlinie aus; Fig.11 zeigt gerade, harte, eckige, wenig gerundete Formen. In 10 sehen wir den Ausdruck der feingeistigen Physiognomie (heliodischer Formencharakter). Es ist die Physiognomie des geistreichen, feinempfindenen Edelmenschen. Sie kommt zustande durch eine starke Lebenskraftstrahlung von innen nach außen. 11 offenbart den nüchternen, realen, gefühlsharten Materialisten, hier herrscht der physiologische Magnetismus in den Formen vor. Der Körper des schönen und seelenvollen Menschen ist nicht wie 11 geradlinig und eckig in seinen Umrissen, sondern zeigt wie 10 reichste, leicht gekrümmte, wellenartige, S-förmige Hebungen und Senkungen.
*) Entnommen aus dem "Handbuch der Menschenkenntnis".

Der englische Künstler Hogarth hat im 18. Jahrhundert auf dieses Prinzip sein Grundgesetz der Aesthetik aufgebaut. Seine diesbezügliche Arbeit, die neuerdings wieder neu herausgegeben ist**) , soll seiner Zeit viel belacht worden sein. Man hat gemeint, er wolle das Krumme als Schönheit propagieren. Jedoch bemerke ich, daß der an einigen Stellen von Hogarth gebrauchte Ausdruck "schlangenförmig" nicht dasjenige ist, was die feingeistige Physiognomie ausdrückt. Schlangenförmig ist immer ein Zeichen des Boshaften, Teuflischen. Man darf also dies bei den physiognomischen Elemente nicht verwechseln. In den folgenden Studien (Fig. 12), die aus dem oben erwähnten Discours von Ch. Le Brun stammen, ist dieser Unterschied zu sehen.
**) Hogarth: "Zergliederung der Schönheit", 1914.

1		2		3
Figur 12

Alle drei Skizzen stellen das Lachen dar.

Auf dem ersten Blick ist es von Offenheit und Wohlwollen begleitet. Die Formen sind fein gerundet und schön im Sinne der obigen Zeichnung (Fig.10). Bei Nr.2 und 3 ist das Lachen gepaart mit teuflischen Gefühlen. Die Augenöffnungen, Augenbrauen, Stirnfalten, die Mundregion, sind schlangenförmig.

J. Winkelmann schreibt in seiner Aufsatzreihe "Ueber Gegenstände der alten Kunst": "die Physiognomie der wahren Schönheit hat nicht unterbrochene Teile. Auf diesen Satz gründet sich das Profil der jugendlichen Köpfe der Alten, welches nichts Linealmäßiges, auch nichts Eingebildetes ist. Aber es ist selten in der Natur und scheint sich noch seltener unter einem rauhen als glücklichen Himmel zu befinden..." In der bereits zitierten Schrift des englischen Künstlers W. Crane "Linie und Form" schreibt der Verfasser: "Man kann in der Tat sagen, daß die Wellenlinie nicht allein den Eindruck einer Bewegung hervorruft, sondern auch ihre Richtung und Stärke angibt. Sie ist in Wahrheit die Linie der Bewegung. Man kann ihr Prinzip auf einfachere Weise darstellen, als es Hogarth in seiner "Zergliederung der Schönheit" tut, wenn man die Linie beobachtet, die auf einer Wand durch den Kopf eines die Straßen entlanggehenden Mannes beschrieben wird." Diese Beobachtung Cranes lehrt, daß nicht nur der Körperbau, sondern auch die Bewegungen des menschlichen Körpers den besprochenen Formencharakter haben. Auch der Engländer Owen Jones hat in seiner Arbeit: "Grammatik der Ornamente" 1868 sich mit diesem Problem befaßt. Endlich möchte ich noch der blinden Amerikanerin Helen Keller gedenken, die in ihrer Lebensbeschreibung über gute Plastiken aussagt, daß ein feines Tastgefühl wunderbare, eigentümliche, feine Senkungen und Hebungen erkennen läßt. Aehnlich äußerte sich A. Rodin (s. S.10 - hier web). Aber nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen zeigt der Körperbau bei fast allen Lebewesen, diese Formeigentümlichkeit in seinen Konturen. Im Rokokostil hat dieses Prinzip seinen künstlerischen auffälligsten Ausdruck gefunden. Die Sitzmöbel dieser Zeit schmiegen sich dem Körper völlig an (Polstermöbel). Es sind daher die bequemsten, die je das Kunstgewerbe geschaffen hat.

Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Das feingeistige Element ist es übrigens auch, was ererbte häßliche Formen der Nase, Augen, Wangen usw. bei Selbsterziehung adelt.



Erstellt 1998. Update 24. April 2007
© Medical-Manager Wolfgang Timm
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Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben. Kunst-Physiognomik. Peter Lips                    Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm
 
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