Die vier Apostel: 2 + 1 Tafeln - Part 4          Copyright 1999-2007 Wolfgang Timm
 
Bild oben Konstruktion Volker Ritter. Die Vier Apostel 2 + 1 Tafeln. München und Lempertz

Fortsetzung

Moderne Prinzipien der Charakterologie bei Albrecht Dürer

Die Gattung 

An zwei Stellen seines schriftlichen Nachlasses äußerte sich Dürer über die Fragen, die man heute mit dem Gattungsbegriff identifiziert: "Bei den Tieren sieht man, dass kein Löwe nimmermehr also entstellt wird, dass man ihn für einen Esel ansehe, noch dass ein Fuchs für einen Wolf ersehen wird. Darum soll kein Geschlecht der Creatur nach Ordnung von seiner Natur gewendet werden".12  Es scheint Dürer der Gattungscharakter als künstlerisches Objekt weniger interessiert zu haben, als der Naturellcharakter. Diese Feststellung ist wichtig; denn zwei neuere Autoren haben dem Gattungsbegriff bei Dürer viel zu viel Bedeutung beigemessen. Hans Bachmann schrieb: "Das konstituierende Grundprinzip der natürlichen Ordnung ist Dürer in den Gattungen gegeben. Sie sind gewissermaßen das Gerüst, die festen Punkte von denen eine Orientierung möglich gemacht wird in der organischen Welt".13  Ähnlich urteilte H. Kaufmann.14  Diese Autoren sehen in den verschiedenen Körperproportionen Dürers mannigfaltige individuelle, geschlechtliche, wie auch rassische Abwandlungen des Gattungstyps. Das Prinzip des Naturells, welches bei Dürer die Hauptrolle spielt, wird von ihnen verkannt. Der Gattungscharakter war das Generalthema der Italiener und Humanisten.


Die Rasse

Auch über den Unterschied der Rassen hat sich Dürer bereits ausgelassen. Er kannte scheinbar erst deren zwei: "Dazu findest du zweierlei Geschlecht der Menschen als Weiß und Mohren. Aus denen ist ein Unterschied zu merken der Art halben, der zwischen ihnen und uns ist. Der Mohren Angesicht sind selten hübsch der pflechten Nasen und dicke Mäuler halben, desgleichen ihre Schienbein mit dem Knie und Fuß sind zu knorrig, nicht so gut zu sehen als der Weißen, desgleichen ihre Hände".15 

Albrecht Dürer: Mohrin

Farbigenphysiognomien sind auf einigen Zeichnungen, Malereien und auch schematisch im Proportionswerk zu sehen. Die Wiedergabe religiösen Gedankengutes jener Tage war zu den Darstellungen der heiligen Dreikönige oder St. Moritz Rassenstudien erforderlich.


Das Temperament

Über das Temperamentproblem bei Dürer ist manches geschrieben worden. Der Grund hierzu boten vor allem sein Kupferstich die «Melancholie» und die «vier Apostel».

Albrecht Dürer: Melancholie I                                               Die vier Apostel. München

Gutes Studienmaterial für die Kenntnis der Temperamentauffassung zur Zeit Dürers hat Panofsky zusammengetragen.16  Die Temperamente im altgriechischen Sinne wurden aus dem Wirken der vier Naturelemente Wasser, Luft, Feuer und Erde erklärt. Dürer nannte sie die vier "Complexionen: die Melancholici, Flegmatici, Colerici, Sanguinici". "Also ist durch die Maß von Außen allerlei Geschlecht der Menschen anzuzeigen, welche luftig, wässerig, feurig oder irdischer Natur sind".17 Mit Angabe dieser Benennung hat Dürer gelegentlich einer Buchillustration im Jahre 1502 vier Köpfe, in deren Physiognomien die Temperamenteigenarten zum Ausdruck gebracht sein sollten, in Holz geschnitten.

Die vier Temperamente von Albrecht Dürer
Feuer=Choleriker	       Luft=Sanguiniker	       Wasser=Phlegma	       Erde=Melancholie

Im Kupferstich hat der Meister die Wesenseigentümlichkeiten des Melancholikers und der Melancholie durch Embleme allegorisiert. Man suchte in dem Melancholiker den Typus des Geistes- und Innerlichkeitsmenschen, des Denkers, Forschers und Grüblers, der die geistigen Tiefen der Natur des Lebens zu ergründen sucht. Diese Annahme ist heute überholt durch die Entdeckung der Naturelltypen. Die Annahme, in den vier Aposteln ebenfalls Darstellungen der vier Grundtemperamente sehen zu können ist sowohl aus historischen wie auch modern wissenschaftlichen Gründen nicht haltbar.


Die Naturelltypen

Mit der Erörterung des Naturellproblems begeben wir uns auf Dürers eigentliches Interessen und Forschungsgebiet.

Carl Huter: Atlas der Naturelle. Hrsg. Amandus Kupfer

Für unsere Aufgabe erscheint das Naturell insofern näheres Interesse, weil erstens Dürer ein Vorläufer dieses jüngsten Kindes der Anthropologie ist, und zweitens weil auf dieser Grundlage eine sachliche Deutung der vier Apostel vorgenommen werden kann.

Naturelle von Carl Huter. Zeichnungen Mellerke

Von den Thesen der italienischen Proportionstheoretiker herkommend, denen der Gattungsbegriff mit dem Ideal eines Einheitskörperkanons vorschwebte, hat Dürer sich im Laufe seiner Forschungstätigkeit immer mehr von diesen Bestrebungen ab und seine Aufmerksamkeit auf die Naturelltypen hingewendet.

Farben-Schema. Dreitypenlehre. Original Carl Huter. Zeichnungen Mellerke

Dieser Vorgang ist zeitlich einigermaßen zu bestimmen. Im "Dresdner Skizzenbuch" hat man eine Möglichkeit zum Überblick über die Entwicklung seiner Proportionsgestaltung. Um 1500 begann er mit der Konstruktion eines einheitlichen Mittelmaßes der menschlichen Gestalt im Sinne der zeitgenössischen Italiener. Zugleich war Dürer bemüht, die Normen der beiden Geschlechter zu finden. Im "Kupferstich Adam und Eva", [1504], und in der Malerei gleichen Themas aus dem Jahre 1507 hat er seine Forschungsergebnisse zum Ausdruck gebracht.

Albrecht Dürer: Adam und Eva. 1504

Um diese Zeit begann Dürer mit der Konstruktion mehrerer Grundtypen durch Darstellung entsprechender Sonderproportionen, wovon aus den Jahren 1512/13 viele Zeichnungen erhalten sind.18 Man erinnere sich, dass in jenen Tagen nach Anregung großer Reisen das Äußere festzuhalten durch Normen. Der Gestaltung des Körpers entsprang vielleicht einem damaligen Zug der Zeit, hierbei stieß Dürer schließlich auf die Naturell-Typen. Diese erschienen Dürer als "Menschenarten", deren er fünf unterschied, aus welchen die Mischungen der ineinander verfließenden Veranlagungen hervorgehen: "Ich habe vorgenommen, fünf unterschiedliche Proportionen zu beschreiben, damit ein jeglicher finden mag, das ihm gefällt: stark, dick, dünn, lang oder kurz, Bildnis in Männern und Weibern, oder aus den allen eine Vermischung seines Gefallens".19 

Zu der Einteilung von fünf Grundtypen ist Dürer wahrscheinlich angeregt worden durch den Italiener Antonio Filarete, der 1462 in seinem Traktat über die Baukunst über die Staturen der Menschen schrieb: "Man teilt die Menschen nach ihrer Statur in fünf Klassen. Von diesen ist sowohl die größte, die der Riesen, als auch die kleinste, diejenige der Zwerge unproportioniert, die drei übrigen menschlichen Staturen, die große, mittlere und kleinere ist proportioniert: von ihnen entnehmen wir unsere Maße und bezeichnen sie mit Vitruv nach den Griechen, welche diese Benennungen ihrerseits von den Ägyptern übernommen haben, als die dorische, korinthische und jonische Statur. Die erste misst neun, die zweite acht, die dritte sieben ihrer Kopflängen".20

Konstruktive Darstellungen hat Filarete aber nur an dem dorischen Typus von acht Kopflängen in Form einer Tabelle. Erstmalig zeichnerisch verwirklicht hat Dürer die fünf Typen. Außer Angaben von Zahlen, Proportions- und anatomischen Hinweisen hat er zu den Figuren gelegentlich noch schlagwortartige Bemerkungen hinzugesetzt. Ausdrücklich benannt ist aber nur eine Gestalt, die des "Bäuerlichen" Mannes. In seinen Theoretischen Erörterungen benutzte Dürer gelegentlich die Ausdrücke wie hart, dünn, schmal, kurz, dick, breit, lind, grimm, faul adelig, lieblich, feiz, zornig, gütig Gestalt, zur Kennzeichnung der Charaktere. Diese charakterologisch angewandten Attribute nannte er "Wörter des Unterschieds" der Gestalten. Athletischen, starken Typen spricht er ein hartes, muskulöses Gepräge zu, subtilen, schlanken Figuren eigne die Zartheit besser.21 

Zeichnerisch behandelt sind im gedruckten Buche Figuren von 61/2, 7, 8, 9, und zehn Kopflängen. Sie sind nicht nur verschieden lang, sondern auch verschieden dick und weisen charakteristische Konturen und Gesichtsorganformen auf.  Ausdrücklich betont Dürer, dass zu den Körperproportionen, nach Kopflänge gemessen, nicht nur bestimmte Gliederlängen, sondern zudem entsprechende Breitenverhältnisse und typische Nasen, Ohren etc. gehören. Bei den Kopftypen ist letztes deutlich vor Augen geführt.

Bezüglich der Breitenverhältnisse finden wir die Erklärung: "Dann zwischen außen herum den Zwerchlinien (d.h. den Enden der Querlinien, die die Längenabschnitte angeben, d. Verf.) wird angezeigt die Dicke und Breite desselben Orts".22  "Nun merk: Würd dieser Mann erlängt, so würd er dicker und breiter nach seiner Mass".23  

Über die Gesichtsorgane belehrt er: "Und also fleißig soll die Stirn, Backen, Nasen, Kinn, Augen, Ohren, Mund mit ihrem Ein- und Ausbiegen und sonderlichen Gestalten gezogen werden, auf daß das allermindeste Dinglein nicht hingelassen werde, daß da nicht sonderlich fleißig wohlbetrachtet gemacht würde. Und so ein jegliches für sich selbst wohlgeschickt gut sein soll, also soll es sich in seiner ganzen Versammlung wohl zusammen vergleichen".24  "Daß erkannt werde die rechte Meinung, daß die Art durch den ganzen Leib gleichförmig wär, es sei in der harten oder linden Art, fleischig oder mager".25 "Aus solcher mancherlei Verkehrung der menschlichen Gestalt wird gefunden, welche die stärkeren oder schwächeren, die Behendern oder Langsameren, frei oder schwer sind". Dieser letzte Satz erhellt ebenfalls, dass Dürer mit seinen Proportionen charakterologische Vorstellungen verband. Es geht daher nicht an, seine Proportionsfiguren nur als eine "formale" Angelegenheit anzusehen. Ihm war es dabei nicht nur um einen mathematischen Proportionsschlüssel zu tun, zumal das Gestalten der Figuren nach Kopflängen entsprechende charakteristische Gliederungen und Modellierungen des Körpers erfordert.

Cäsare Lombroso hat durch seinen "Schwerverbrechertypus"26 und Huter vor allem durch seine Grundnaturelle nachgewiesen, dass Proportionsverhältnisse Charaktermerkmale sind. Alle Zahlen sind dabei von untergeordneter sekundärer Bedeutung.

(Anmerkung Timm: Lombroso Cesare, italienischer Psychiater und Begründer der Kriminalanthropologie. Nach dem Schulbesuch in seiner Heimatstadt studierte er ab 1852 Medizin in Pavia, Padua und Wien und wurde 1858 in Pavia promoviert.

Prof. Dr. med. Cesare Lombroso (1836 - 1909)

Beim Ausbruch des italienischen Unabhängigkeitskrieges meldete er sich 1859 als Freiwilliger und diente bis 1865 als Militärarzt. Daneben war er seit 1863 Dozent für Geisteskrankheiten an der Universität Pavia, wo er 1867 zum ao. Professor der Psychiatrie ernannt wurde. Im Dezember 1871 übernahm er vorübergehend für ein Jahr die Leitung der psychiatrischen Klinik in Pesaro. Durch seine Veröffentlichungen über Beziehungen zwischen Genie und Wahnsinn, über die Pellagra und über Verbrechertypen bekannt geworden, erhielt er 1876 den Lehrstuhl für Gerichtsmedizin und der Hygiene an der Universität Turin, den er auch nach 1896, als er zur Professur für Psychiatrie wechselte, weiterhin vertrat und 1906 der kriminellen Anthropologie. Er war auch der Direktor eines Geistesasylum in Pesaro, Italien.

Seine Annahme, dass die Verbrechen eine Folge atavistischer angeborener Eigenschaften der Menschen seien, führte zur Begründung der Kriminalanthropologie und brachte ihm 1905 den Turiner Lehrstuhl für diese Disziplin ein, blieb aber weitgehend umstritten. 1880 gründete er die Zeitschrift "Archivio di psichiatria, antropologia criminale e scienze penali" und 1905 das Museum für Kriminalanthropologie in Turin.

Lombroso, der in Italien trotz einer ansehnlichen Schülerzahl kaum offizielle Anerkennung fand (er war nur Mitglied der Akademie für Medizin in Turin und Offizier im Orden der Krone Italiens), wurde Commandeur der französischen Ehrenlegion (1905), Ehrenpräsident der Londoner Ethical Society (1906) und Ehrendoktor der Universität Aberdeen (1907).

Lombroso versuchte, bestimmte körperliche Eigenschaften, wie anormale Formen oder Massen des Kiefers, der Asymetrien im Gesicht ausgedrückt usw. - aber auch anderer Körperteile ausgedrückt werden, auf kriminelle psychopathologische oder die angeborene Tendenz zu beziehen in Richtung kriminelles Verhalten. Seine Theorie ist wissenschaftlich diskreditiert worden, aber Lombroso hatte den Verdienst des Forschens und den Wert der wissenschaftlichen Studien des kriminellen Verstandes - ein Feld, das als kriminelle Anthropologie bekannt wurde - erkannt.

"Trotz der unwissenschaftlichen Natur seiner Theorien" (...), war Lombroso in Europa (und auch in Brasilien) unter criminologists und jurists in hohem Grade einflussreich.
Werke u.a.
1864 Genio e follia, 5. Aufl. u.d.T. L'uomo di genio...
1888 Rom
1869 L'uomo bianco e l'uomo di colore
1871 L'uomo delinquente...
1876 Rom
1971 Sull'incremento del delitto in Italia e sui mezzi per arrestarlo
1879 Lezioni di medicina legale
1886 Palimsesti del carcere
1888 Il delitto politico e le rivoluzioni... (mit R. Laschi)
1890 Trattato profilattico e clinico della pellagra
1890 Le più recenti scoperte ed applicazioni della Psichiatria ed Antropologia criminale
1893 La donna delinquente, la prostituta e la donna normale (mit G. Ferrero)
1893 L'antisemitismo e le scienze moderne
1894 Gli anarchici
1894 Rom
1972 Millwood, N.Y.
1983 Grafologia
1895 Genio e degenerazione
1897-1907 Nuovi studi sul genio
1901 Delitti vecchi e delitti nuovi
1902 Ricerche sui fenomeni ipnotici e spiritici
1909 Klinische Beiträge zur Psychiatrie
1869 Der Verbrecher..., 3 Bde.
1887-1896 Genie und Irrsinn
1887 Der geniale Mensch...
1890 Der politische Verbrecher und die Revolutionen..., 2 Bde.
1891-1892 Entartung und Genie
1894 Der Antisemitismus und die Juden im Lichte der modernen Wissenschaft
1894 Neue Fortschritte in den Verbrecherstudien
1894 ND 1899; Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte
1894 Die Anarchisten
1895 Handbuch der Graphologie
1896-1917 Die Lehre von der Pellagra
1898 Kerker-Palimpseste
1899 Die Ursachen und Bekämpfung des Verbrechens
1902 Neue Studien über Genie
1906 Neue Verbrecherstudien
1907 Hypnotische und spiritische Forschungen
1910 Studien über Entartung und Genie
1910 ND Genie und Entartung, 1922)

Wenn Hans Kleiber 1903 feststellte: "Herrscht doch noch in den Werken moderner Proportionsforscher keine Klarheit darüber, wie denn Proportionalität mit Charakterisieren zu vereinen und was eigentlich unter den sogenannten Charaktermaßen zu verstehen sei 27 so ist ein solcher Mangel zu beheben, durch die Entdeckungen jener beiden Männer.

Der gute Menschenkenner Nr. 66. Hrsg. Amandus Kupfer. 1938

Die Grundnaturelle werden heute biologisch festgestellt und eingeordnet nach den Proportionsverhältnissen von Gliedern, Rumpf und Kopf. (vergl. Hauptwerk) Wenn man diese Verfahren auch bei den Proportionszeichnungen anwendet, dann sagen sie uns weit mehr, als die wenigen von Dürers dazu geäußerten Bemerkungen.

Der gute Menschenkenner Nr. 24. Hrsg. Amandus Kupfer. Schwaig bei Nürnberg. 1934

Einige Figuren sind sehr klein, andere sehr lang, von sechs oder zehn Kopflängen und haben weniger allgemein anthropologisches als künstlerisches Interesse. Sind die von sieben, acht und neun Kopflängen natürlichen Maßen entsprechend, so haben jene künstlerischen Zweck. Erinnert sei an die untersetzten nur fünf bis sechs Kopflängen messenden Gestalten der Romantik und die oft überschlanken bis zwölf Kopflängen messenden Figuren der Gotik. 

Levitating Stone
(Hinzugefügt)


Erstellt 1999. Update 21. April 2007
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben. Albrecht Dürer und Carl Huter
 
The Gate/Das Tor