Die vier Apostel: 2 + 1 Tafeln - Part 3          Copyright 1999-2007 Wolfgang Timm
 
Bild oben Konstruktion Volker Ritter. Die Vier Apostel 2 + 1 Tafeln. München und Lempertz

Fortsetzung

Der Stand der Physiognomik zur Zeit Dürers
Um Dürers Ausdruckswissenschaftliche Forschungsergebnisse genügend würdigen zu können, ist ein geschichtlicher Überblick nötig.

Dass die altgriechischen Bildhauer Physiognomen großen Stils waren, beweisen ihre Werke. Fernow, ein Zeitgenosse Goethes, behauptete, nicht die Schönheit, sondern die Charakteristik sei das Prinzip der antiken Kunst gewesen. Es waren auch von antiken Künstlern verfasste physiognomische Werke vorhanden, die bis auf Wenige verloren gegangen sind, was von Dürer sehr beklagt wurde.

Was sich bis zur Renaissance in den Werken griechischer und römischer Dichter und Philosophen an physiognomischen Bemerkungen fand, ist von Baptista Porta in einem Buche 1595 zusammen getragen worden.  Die Abbildungen darin brachten Vergleiche von Tier- und Menschengesichtern. Die Anregungen dazu weisen auf Aristoteles, auf den auch die ersten Schädellokalisationsversuche in Bezug auf die geistigen Forschungen zurückzuführen sind, und von dem Scholastiker Albertus Magnus (1207-1280) kommentiert worden.

Aristoteles

Im Anschluss hieran soll im Jahre 1491 ein gewisser Petrus Montagnana einen phrenologischen Kanon veröffentlicht haben, den Dürer gekannt haben kann; denn er schuf einige Jahre später einen solchen. Aus dem dreizehnten Jahrhundert sind von dem französischen Architekt Villard de Honecourt wertvolle Skizzen aufgefunden, die einen Einblick in das physiognomische Wissen der mittelalterlichen Bauhütten gewähren.

Albrecht Dürer: Melancholie I

Dürer wird übrigens, wie seine «Melancholie» zeigt, in die Bauhüttenweisheit eingeweiht gewesen sein. Seine Bemerkung über das Komponieren "wie es die kunstlichen Steinmetzen im täglichen Gebrauch haben" deutet darauf hin.

Die Kunst stand im Mittelalter vollständig im Bann der Kirche und die diesbezüglichen darzustellenden Künstler entnahmen ihre Vorwürfe der sakralen Literatur. Bestimmte Charaktere wurden gekennzeichnet durch wohlberechnete Formen und Farben. Den Gipfel jenes kunstphysiognomischen Könnens erreichten erst die Meister der Renaissance, und zwar in Italien Leonardo da Vinci und in Deutschland Albrecht Dürer.

Adam vom Bamberger Dom

Ein besonderes Teilgebiet der Ausdruckswissenschaft ist das Körperproportionsproblem: "Solange sich die Kunst mit der Gestaltung des Menschen auseinandersetzt, gibt es kodifizierte Canones der menschlichen Figur, die dem Kunstkreis und der Epoche entsprechend geformt sind". Diese Canons aller Zeiten und Völker sind allesamt, wie solches schon bemerkt wurde, bei der Gestalt-Psychologie zu erfassen. Den Konstitutionsforscher wiederholen sich dieselben Naturell-Typen, in welchen gewissermaßen anschaulich die jeweilige Lebens- und um zu sagen Modeideale fundiert sind.6 Man kann aufeinander folgend ägyptische, griechische, römische, byzantinische, romanische, gotische Kanonproportionen unterscheiden, die den Künstlern als Norm für ihr Schaffen wurden.  Die Entwicklung der Proportionsvorschriften ging den Stilentwicklungen parallel.

Erkennt man den Grundsatz an, dass jede physische Struktur die gesetzliche Funktion psychischer Vorgänge und Zustände ist, dann ist jede Festlegung der Größenverhältnisse ein vorsätzliches mathematisches Fixieren des Zeitgeistes im Körperbau des Menschen.  Man kann daher aus den Proportionsvorschriften das häufig nicht ganz leicht in Begriffe zu fassende Kunstwollen einer Zeit charakterologisch deuten. Denn hinter den Proportionsvorschriften der verschiedenen Jahrhunderte steht letztlich der Mensch mit seinen Lebensidealen des betreffenden Zeitalters. Das rege Interesse an Proportionsfragen in der italienische Frührenaissance kündigte ein neues Zeitalter an.

Alberti

Besondere Erwähnung verdienen Antonio Filarete, Leone Battista Alberti, Luca Pacioli, Leonardo da Vinci und sein Schüler Pomponius Gauricus. Von den beiden letzten sind außer Proportionsregeln auch allgemeine physiognomische Erkenntnisse überliefert, die Dürer bekannt waren. Außer den italienischen sind auch deutsche Proportionsregeln des ausgehenden Mittelalters nachgewiesen worden.7  Die von dem altrömischen Baumeister Vitruv überlieferten Proportionsregeln sind nachweislich nicht nur theoretisch das ganze Mittelalter bekannt gewesen, sondern auch praktisch an den ersten Akten des Mittelalters der Adampforte des Bamberger Domes.  An dem Adamskopf um 1250 lassen sich die gleichmäßigen Dreiteilungen des Gesichtsprofiles nachweisen.

Kaphammel. Der Goldene Schnitt. 2001

Auffallend ist auch das eiförmige Oval des Kopfes, was ebenfalls kanonische Bedeutung hat. Seltsamer Weise sind dies Eigentümlichkeiten der Adamsfigur, die bisher der Forschung entgangen, die aber als praktischer Beleg für die Vitruv-Kenntnis des Deutschlands anzuführen wären. Wie die Gesichtszüge, sind auch die Haare stilisiert. Dieser "Adam" ist ein plastisch realisierter Kanon der Spätromantik.

Nach diesem Überblick über die physiognomischen Bestrebungen vor Dürer, ist die Annahme, Dürer sei durch den italienischen Maler Jacopo de Barbari aus Venedig, ist oben schon bereits hingewiesen, überhaupt auf das Proportionsproblem aufmerksam gemacht worden, nicht haltbar.  Vielmehr bemühte er sich bereits um seine Erforschung als er Barbaris Bekanntschaft machte, der ihn aber auf weitere Quellen hinwies: "Ich selbst wollte lieber einen hochgelehrten berühmten Mann in solcher Kunst hören und lesen, dann daß ich als ein Unbegründeter davon schreiben sollt".8  Seine Kenntnisnahme mit den italienischen Bestrebungen auf diesem Wissensgebiete ist mithin nur eine Fortsetzung bereits begonnener Studien.

Er hat, was seine Zeit an Kunstlehren ihm bot, selbständig mit den eigenen Erkenntnissen verarbeitet. "Aus der ganzen Entwicklung der Proportionslehren des Mittelalters und der Renaissance zog Dürer das Facit". "Bei ihm sammelt sich in seiner Entwicklung das Wichtigste nordischer und südlicher Proportionstheorie und wird endlich in ein streng durchgearbeitetes, klares, alle Möglichkeiten und Problem beachtendes System gebracht". Dürer war ein hervorragender Systematiker.9 So bildet Dürers Proportionswerk eine Fortsetzung und Entwicklungsstufe des Werdens der Ausdruckswissenschaft, die im neunzehnten Jahrhundert eine so glänzende Höhe erreichen sollte.

Dürer ging an die Abfassung eines Lehrbuches für "Malerknaben" um der Unwissenheit vieler deutscher Künstler abzuhelfen; denn die nötigen Kenntnisse waren mündlich überliefert worden und dies geschah natürlich je nach der Begabung des Lehrers schwankend und unsicher, also unvollkommen. So sollte das Proportionswerk zunächst ein physiognomisches Lehrbuch für Maler und Bildhauer sein. Aber der Verfasser hat damit, wie Leonardo mit seinem Malerbuch, die Anthropologie gefördert.


Die Vier Bücher von der menschlichen Proportion

Die Begründung einer neuen Proportionslehre war ein Hauptteil des Dürerschen Lebenswerkes, für welches er "von Tag zu Tag gesucht" hat.  In ihr sind die reichen Erkenntnisse seines Lebens niedergelegt. Sowohl das Proportionswerk wie sein Buch über die "Unterweisung und Messung mit Zirkel und Richtschneid" sind ausdrücklich für die Anwendung im Kunstschaffen verfaßt. 

Für ein schnelles Verständnis des Proportionswerkes ist eine Übersicht in moderner Systematik und Terminologie geboten. Im I. und II. Buche werden hauptsächlich das Körperkonstitutions- oder Naturelltypenproblem, und die Temperamente behandelt. Das III. Buch gilt der Gesichts- und Schädel-Physiognomik, nur das IV. Buch den Ausdrucksbewegungen.

Neben diesen Hauptthemen, zu welchen aufschlußreiche Illustrationen gebracht sind, findet man Bemerkungen über die physiognomischen Eigenheiten der Geschlechter, die Temperamente, Rasse, Lebensalter. Ein wichtiges Kapitel ist die psychologische Symbolik geometrischer Figuren und der Liniencharaktere im III. Buche.

Albrecht Dürer: Proportionslehre

Über die Gründe, welche den Verfasser zu seiner Gliederung des Dürerschen Textes bewogen haben, wolle der Leser sich im Anhang näher orientieren, wo die Prinzipien der modernen Charakterologie skizziert sind. Dürers Schöpfungen wurden von jeher als "Ausdruckskunst" empfunden. Streng genommen ist diese Kennzeichnung überflüssig, denn alle Kunst ist Ausdruck des Wollens eines Künstlers. Dass einem aber gerade angesichts der Bildwerke Dürers dieses zum Bewusstsein kommt, wird wohl seine Ursache darin haben, dass der Meister wissenschaftlich die äußere Erscheinung der Dinge als ihr Wesensausdruck behandelte und malte. Für Dürer waren die Gestalt, die Formen der Köpfe, Gesichtszüge, der Ausdruck der Augen, Haut und Haare der Menschen kennzeichnend für dessen Wesen. Charakter und Körperbau waren für ihn zusammengehörig. Seine Bildnisdarstellungen bezeugen, dass er diese Zusammenhänge von Fall zu Fall auch klar durchschaute, was keineswegs von allen andern Porträtmalern gesagt werden kann. Form und Gestalt will Dürer nie als etwas Willkürliches angesehen, sondern stets durch Gesetze bedingt angesehen wissen! Daher ist seinen Proportionsmaßen und Zahlen psychologische Be-deutung zu zusprechen.

Einer der größten Maler des neunzehnten Jahrhunderts, Hans Thoma, nannte Dürer den großen Feind aller Unbestimmtheiten: "Durch diesen geweckt, sah ich, dass jeder Stein, jeder Grashalm voller Ausdruck ist, und dass es für die Malerei nichts Unbedeutendes in der Natur gibt". (Kunst unserer Zeit. S.88)

Albrecht Dürer: Rasenstück

In der Einleitung zum Proportionswerk schrieb Dürer: "Ich will mit diesem Unterricht alleine von den äußern Linien der Form und Bilder und wie die von Punkt gezogen sollen werden, schreiben, aber von den innerlichen Dingen (der anatomischen Struktur d. Verf.) garnicht". I 208/338  "Allein soll diese mein Büchle enthalten, reden und anzeigen die äußere Gestalt, Linien und Massen der Menschen". 2/259. Dass Dürer nun nicht lediglich morphologische Ziele verfolgte, wie es moderne Proportionstheoretiker glauben, sondern die mathematischen Fixierungen in Hinsicht auf die Charaktere vornahmen, ist aus verschiedenen anderen Stellen seines Buches zu entnehmen. So finden wir: "Also kommt aus der Messung, daß die Natur aus der Gestalt des Menschen kenntlich wird". 3/220. Während den italienischen Proportionstheoretikern philosophische und naturwissenschaftliche Ziele vorschweben, liegen bei Dürer physiognomische Absichten vor.

Albrecht Dürer: Nakter Mann (Apollo)

Dürer symbolisierte aber nicht nur durch die menschliche Gestalt und durch geometrische Figuren, sondern auch durch Gegenstände des täglichen Gebrauches. Auf dem Kupferstich «Melancholie» ist eine große Anzahl von Dingen zu sehen: Engel, Lamm, Kristall, Zirkel, Würfel, Kugel, Waage, usw. alles Symbole antiker und mittelalterlicher Mysterienweisheit. Für zwei alltägliche Dinge auf diesem Stich gab Dürer selbst eine Erklärung, nämlich für den Beutel und die Schlüssel am Gürtel der Frau: Sie sollen Reichtum und Gewalt bedeuten. "Wie kann man glauben, daß irgend jemand den Gegenständen, die zu den Attributen jeder Hausfrau gehörten, hier plötzlich einen besonderen Sinn haben"? fragt Heinrich Wölfflin".10  Solcher Gegenstandssymbolik begegnen wir auch auf anderen Werken des Meisters.

Albrecht Dürer: Melancholie I

Bei den vier Aposteln finden sich eine Schriftrolle, Schwert, Bücher, Schlüssel. Diese Embleme haben, wie es das Beispiel der Schlüssel und des Beutels zeigt einen Symbolwert, der bei Dürer nicht kurzerhand traditionell erklärt werden darf, sondern dem dargestellten Objekt gemäß gedeutet werden muß, so verlangt es Dürers stets reflektierender Verstand.

Kaphammel. Der goldene Schnitt. 2001

Dürers theoretische Erwägungen standen in unmittelbaren Beziehungen zu seinem Kunstschaffen. "Schon die ersten Würdigungen Dürers heben übereinstimmend hervor, dass er Theorie und Praxis verbunden und damit der deutschen Kunst einen neuen Rang gegeben habe". Es waren Gelehrte die das sagten, seine Zeitgenossen Pirkheimer und Camerarius. Im neunzehnten Jahrhundert urteilte man seltsamerweise anders darüber. So glaubte H. Klaiber noch feststellen zu können: "Die Kluft, die nach Thausings Ansicht zwischen der Proportionslehre und dem künstlerischen Schaffen Dürers besteht, welches durch die berühmten Portraits und Apostelbilder gekrönt wurde, ist nicht ausgefüllt. Der Theoretiker und der schaffende Künstler gingen keineswegs restlos ineinander auf, es blieb beim Theoretiker ein Rest, der auf das Konto seiner Zeit und seiner speziellen Veranlagung zu setzen ist".11 Sogar gegenüber den vier Aposteln äußert sich Klaiber in diesem Sinne: "Für unser Gefühl ist es allerdings etwas sehr natürliches, dass bei den Bildern der vier Apostel die Proportionskunde nicht angewandt wurde". In diesem Ton stimmte noch Justi ein, dass Dürers eigene Proportionslehren "natürlich bei den Aposteln nicht benutzt worden sind, weil deren Köpfe portraithaft charakterisiert und zueinander in Kontrast gesetzt seien. Im Jahre 1930 urteilte Josef Giesen, wie wir gesehen haben, schon anders darüber. 

Hier soll nun aber gezeigt werden, dass Dürers Proportionswerk den Schlüssel für die Deutung der vier Apostel birgt. Ein gründliches Studium und Verständnis ist daher Voraussetzung zur Erschließung des letzten und größten Tafelwerkes Dürers.  Schon drei Jahre vor der Vollendung der Malerei war das Manuskript zu dem Buche fertig gestellt. Es erscheint kaum glaublich, dass Dürer seine eigenen Thesen beim praktischen Schaffen unberücksichtigt gelassen haben sollte. Bei derartigen Annahmen unterschiebt man die eigene Hilflosigkeit in der Deutung einem andern, und zwar in diesem Falle einem unserer größten Denker, Forscher und Künstler zu.

Die Anwendung der Theorien Dürers für die Erklärung seiner vier Apostel geschieht hier zum ersten Male. Zuvor müssten aber Dürers Theorien mit Hilfe der modernen Terminologie besprochen werden. Dürers Gedanken stehen in seinen Abhandlungen nicht so systematisch geordnet nebeneinander wie zur Erklärung nötig. Sie sind außerdem zuweilen derartig knapp gefasst, dass die Kommentare umfangreicher sein müssten, als der Originaltext. Seine theoretischen Erörterungen waren ihm inhaltsschwere Angelegenheiten, die einem langjährigen Reifeprozess entsprungen waren, und seine Sätze bergen daher in ihrer gedrängten Form sehr viel an Erkenntnisinhalt.

Volker Ritter. Rekonstruktion: Die vier Apostel. Lempertz. 2001
Bild links u. rechts: Die vier Apostel. München

Die beiden Kirchen-Schema-Zeichnungen, die den Spalt oder Schacht für den Ebenendurchstieg beim Schlüssel freihalten: Die eine Tafel beinhaltet die Idee der zwei Tafeln, s.137


Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Es ist mit der Konstruktionsgrundlage der vier Apostel ähnlich, wie mit den Schlüsselfiguren in den Grundrissen gotischer Kathedralen; man kann sie an dem fertigen Bauwerk nicht mehr erkennen. Zum Unterschied hierzu ist aber zu bemerken, dass uns von den Prinzipien der Bauhütten wenig Schriftliches überliefert ist, während Dürer uns ein ganzes Buchwerk hinterlassen hat, dass zur Erklärung seiner Schöpfungen dienen kann.


Erstellt 1999. Update 21. April 2007
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben. Albrecht Dürer und Carl Huter
 
The Gate/Das Tor