Die vier Apostel: 2 + 1 Tafeln - Part 8           Copyright 1999-2007 Wolfgang Timm
 
Bild oben Frauenkirche Dresden. Albrecht Dürer Selbstbildnis. München. Ausschnitt. Das gerundete Auge

Fortsetzung

Die Vergleichlichkeit

Ein von Dürer oft angewandter Begriff ist der der "Vergleichlichkeit". Dieser, wie auch andere Äußerungen, müssen von der Ideenlehre aus geklärt werden, denn die platonische Idee spielte in den Kunsttheorien der Renaissance eine beachtenswerte Rolle. Dürer schrieb: "Dann ein gut Maler ist inwendig voller Figur, und obs müglich wär, daß er ewiglich lebte, so hätt er aus den innern Ideen, davon Plato schreibt allweg etwas Neues durch die Werke auszugießen". 6) S.295 Denn bei der Proportionalität hat man nur mit räumlichen Größenverhältnissen zu rechnen. Diese sind aber nur ein Teil der Forderung. Dürers Vergleichlichkeit verlangt zudem noch Einklang physiognomischer Eigentümlichkeiten in der Gliedergestaltung, Umrissbildung, Oberflächenmodellierung und auch der Farbtönung. Man vergegenwärtige sich der Kunstgebilde der Drachen, Centauren, Satyre, Sphinxe, Teufel oder der phantastischen Ungeheuer an den gotischen Domen, die Ihre Entstehung dem mittelalterlichen Bestiarius oder Physiologes verdanken. Sie alle sind vergleichlich als Objektivierung entsprechender Ideen gestaltet, was nicht allein durch Proportionalität ihrer Teile zustande gekommen ist, sondern durch physiognomische Charakteristik.

Es ist auch behauptet worden, dass Dürers Vergleichlichkeit gleichbedeutend sei mit dem Harmoniebegriff der Italiener. Jedoch wollten diese durch Harmonisierung aller Körperteile Schönheit schaffen.

Der gute Menschenkenner Nr. 15. Hrsg. Amandus Kupfer. Schwaig bei Nürnberg. 1934

Eine gute weitere Erläuterung der Vergleichlichkeit bietet Lavaters sinnverwandter Begriff der "Zusammenschicklichkeit", über welchen er in seiner Abhandlung "Über die Homogenität, Gleichartigkeit aller einzelnen menschlichen Gestalten" schrieb.58  Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht der in neuester Zeit viel angewandte Begriff der "Ganzheit": "Die Natur wirkt bei all ihren Organisationen immer von innen heraus, aus einem Mittelpunkte auf den ganzen Umkreis". "Daher passt kein Menschenfinger in eines andern Hand. Jedes Teil eines organischen Ganzen ist Bild des Ganzen, hat den Charakter des Ganzen". "So wie jeder Teil des Körpers sein Verhältnis hat zu dem Körper von dem er ein Teil ausmacht, so wie aus der Länge des kleinsten Gliedes, des kleinsten Gelenkes an einem Finger, die Proportionen des Ganzen, die Länge und Breite des Körpers gefunden und bestimmt werden kann, so auch die Form des Ganzen aus der Form jedes einzelnen Teiles". "Wer Physiognomik studieren will, studiere die Zusammenschicklichkeit der konstituierenden Gesichtsteile. Wer die nicht studiert hat, hat nichts studiert"

Durch die Begriff Vergleichlichkeit oder Zusammenschicklichkeit soll also gesagt werden, daß die Beschaffenheit jedes Teiles der organischen Ganzheit eines Individuums im Ausdruck in Form, Farbe, Größe entspricht. So hat z.B. bei den Huterschen Naturelltypen jedes Körperglied die typischen Merkmale für die in Frage stehende Konstitution. Das männliche und weibliche ist an allen Teilen des Körpers einer Person charakteristisch. Mithin kann nach diesen Überlegungen Dürers Vergleichlichkeit nicht ästhetisch erklärt, sondern muß vom charakterologischen Standpunkte aus verstanden werden.

Durch Vergleichlichkeit soll die Idee eines Charakters in der Einheit und Ganzheit eines Organismus in allen Körperteilen gekennzeichnet sein. Daher darf man Vergleichlichkeit nicht mit Proportionalität verwechseln, wie es von A. Bäumler geschah.59  Ihr Harmoniebegriff galt in erster Linie der Kunst, während Dürers Begriff auch für die Natur Gültigkeit beanspruchte. Durch die Kunst sollte durch Vergleichlichkeit nicht nur Schönheit, sondern auch Hässlichkeit dargestellt werden können, wenn eine Idee dieses erforderlich macht. Man denke an die eines Henkerknechtes, Verräters, Pharisäers oder einer Judasnatur.

Die Harmonie war für Dürer mithin nur ein Sonderfall der Vergleichlichkeit, aber nicht mit ihr identisch. Bei Dürer sind also weder die Begriffe Proportioniertheit und Schönheit, noch Vergleichlichkeit und Schönheit zusammenfallend. Eine aufschlußreiche Stelle bei ihm lautet: "Es ist auch im Ungleichen eine große Vergleichung". I) S.301  Man mache sich den Sinn dieser Äußerung klar am Huterschen Disharmonienaturell, dem des asozialen Verbrechertypus der Leben und Kulturwerte stören und zerstört. Bei diesem sind die Körperteile schlecht (ungleich) proportioniert und zueinander nicht übereinstimmend im Ausdruck und der Modellierung. So können unter andern die Ohren, Nase der Mund zu groß oder zu klein sein, die Schultern zu breit, die Arme und Beine zu kurz oder zu lang sein.

Carl Huter: Disharmonisches Naturell und Verbrechernaturell. DgM Nr. 1 - Hrsg. Amandus Kupfer. 1932

Es sind die Merkmale eines unsozialen Lebens und Harmonie störenden Charakters. Die Eigenart dieses Naturells ist eben durch ihre "Ungleichheiten" in der organischen Ganzheit typisch. Es kann also auch im Ungleichen eine große Vergleichlichkeit sein.

Über seine Proportionslehren schrieb Dürer: "Aber solche ob beschriebene Meinung dient mehr zu Unterschied, dann zu Gestalt der Hübsche,---". 2) S.212 Die Kunst hat seiner Ansicht nach nicht nur die Aufgabe Schönheit, sondern auch, um der "Erkenntnis des Guten aus dem Bösen willen", im Gegensatz dazu, das Hässliche, "Saturnische, Martialische" darzustellen; "Und aus solchen ob gemeldeten Dingen (der Proportionslehren, d. Verf.) kommt dann Ursach zu nehmen, wie man lieblich oder hässlich Ding mög machen". 3) S.220 Ein Künstler braucht mithin nicht auf die Darstellung des Hässlichen zu verzichten, ja Dürer hält dies sogar für eine nicht geringe Fähigkeit: "Darum gib ichs einem Idlichen zu treffen, ob er hübsch oder hässlich Ding will machen. Dann ein idlicher Werkmann soll künnen machen ein adelig oder bäurisch Bild. Dann es ist ein groß Kunst, welcher in groben bäurischen Dingen ein rechten Gewalt und Kund kann anzeigen im Gebrauch".60 

In den gotischen Kathedralen wurde nicht nur das Ideale und Erhabene, sondern auch das Minderwertige, Perverse, Unflätige, Böse in den Wasserspeiern, Miserikordien, Kapitälern, Konsolen, Friesen verewigt. Diese Motive sind oft mit großer künstlerischer Meisterschaft behandelt.

Bemerkenswert ist, dass es im Mittelalter auch theoretisch kein Zusammenbestehen von Kunstlehre und Schönheitslehre gab. Beides ging völlig getrennt nebeneinander her.

Nach den Ästhetikern der Renaissance hatte der Künstler nicht lediglich die Aufgabe Schönheit darzustellen. Dürer vertrat als Wortführer der spezifisch deutschen und niederländischen Künstlerschaft, was sie schon Jahrhunderte in ihren Malerschulen pflegten: den Kontrast von Schönheit und Hässlichkeit als Ausdruck ethischer Werte einander gegenüber zu ordnen. Gerade in der Darstellung der minderwertigen, bösartigen Charaktere bei den geborenen Widersachern, den Peinigern Christi und der Heiligen, konnten sie sich nicht genug tun, durch abnorme Physiognomien zu brandmarken.

Die Deutschen Meister hatten nicht in erster Linie die Darstellung des menschlichen Schönheitsideals sich zur Aufgabe gemacht, sondern strebten nach Klassifizierung, Typisierung und Individualisierung. Sie huldigten, wie die alten Griechen, dem Prinzip der Charakteristik. Jene um Verkörperung um gut und böse, diese um die Bewohner des Olymps vor Augen zu führen. Höchst mögliche Schönheit darzustellen war den Deutschen nicht alleinige Aufgabe der Kunst, sondern eine. Sie zu erfüllen erfordert dieselbe Methode, die schon bei der Besprechung der Naturell-Zeichnungen erwähnt wurde. Auswahl und Vereinigung geeigneter Einzelteile und Ausmerzung nicht passender Merkmale, der Fachausdruck dafür heißt Elimination.

Das Zuammenfügen von Teilschönheiten verschiedener Individuen zu einem Schönheitsideal der menschlichen Gattung ist nur ein Sonderfall genannter Methode, diese war Dürer natürlich geläufig. "Man durchsucht oft zweihundert oder dreihundert Menschen, dass man kaum eins oder zwei schöner Ding an ihnen findet, die zu brauchen sind. Darum so tut not, willst du ein gut Bild machen, daß du von etlichen das Haupt nehmest, von andern die Brust, Arme, Bein, also durch alle Gliedmaß alle Art ersuchest. Dann von viel schön Ding versammelt man etwas Gutes, zu gleicher Weis wie Honig aus viel Blumen zusammengetragen wird". I) S.400 u. 300  Dürer hatte für diese Methode die Namen "Zusammenklauben" und "Herausreissen". Berühmt ist sein Wort: "Dann wahrhaftig die Kunst steckt in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie".

Reißen ist heute noch der technische Ausdruck für Zeichnen. Im Herauszeichnen geeigneter physiognomischer Eigentümlichkeiten aus der Natur zwecks Objektivierung einer Idee, d.h. sich der äußern Welt kunstschöpferisch bemächtigen zu können, war Dürer ein unübertrefflicher Meister, der aber doch meinte: "Dann es ist nit eine kleine Kunst, viel unterschiedlich Gestalt der Menschen zu machen". 2) S.300

Die Illustrationen im Proportionswerk sollten in erster Linie Naturelltypen und keine ästhetischen Vorbilder sein. "Nicht die Schönheit ist Dürers Zentralproblem gewesen, sondern eine Morphologie der Natur ist der eigentliche Gegenstand seines Werkes über die menschliche Proportion".61  Auch Wöllflin äußerte: "Die Proportionsfiguren sind noch lange keine schönen Figuren".62  Betrachtet man gar einige Köpfe im Proportionswerk, so darf man geradezu von Hässlichkeiten sprechen, weil sie Verbrechertypen zeigen.

Dürers Kunstschöpfungen sollten eben nicht nur Schönheit zur Anschauung bringen, sondern Charaktere vor Augen führen. So sind der eckige Schädel Pauli, die zerrissenen Hautfalten und wirren Haare Petri unter den vier Aposteln Disharmonien neben den ihren Schönheiten. Aber diese Eigentümlichkeiten sind für die "Vergleichlich". Man sieht daß man formte hinter deren der Begriff der Vergleichlichkeit am besten zu gebrauchen ist.

Die italienische und die deutsche Proportionslehre

Worin besteht der Unterschied der italienischen von der dürerschen Proportionslehre? Kehrer äußerte: "Indessen Proportion und Proportion ist zweierlei; es gibt italienisch-antike und deutsch-mittelalterliche Proportionen, ..."63  Schon Thausing macht darauf aufmerksam, daß Dürer andere Ziele verfolgte, als die Italiener, ohne allerdings aufzuzeigen. Auf der Grundlage der Prinzipien der modernen Ausdruckswissenschaft kann Antwort gegeben werden auf diese Frage.

Oben ist auf die anthropologische Unterscheidung des Gattungs- von Naturellprinzip im Charaktergefüge hingewiesen worden. Es wird einleuchten, daß Gattungs- und Naturellproportionen unterschieden werden müssen. Für die Gattungsproportion kommt logischer Weise nur ein uniformes Schema in Frage. Für die Naturelltypen sind aber mehrere Schemata notwendig.

Der kultische Mittelpunkt der Renaissance war der Mensch, und zwar der Mensch im Allgemeinen, anthropologisch gesehen, als Gattungswesen. Daher die Bezeichnung ihrer Bestrebung als "Humanismus", dessen theoretische Grundlage in der antiken stoischen Ethik des Weltbürgertums in Verbindung mit dem Christentum gegeben war. Für die Kennzeichnung der menschlichen Gattungseigenschaften muß einmal das charakteristische der menschlichen Gestalt wie es im aufrechten Gang, Art der Behaarung, deutlichen Dreiteilung des Gesichtsprofiles usw. sich zeigt, und zweitens das Mittelmaß des Körperbaues in den Längen-, Breiten- und Dickenverhältnissen d.h. in seiner Proportionierung der Teile, und zwar unabhängig von den Unterschieden der beiden Geschlechter, festgestellt werden.

Das Buch von 1941. Nazi-System und Leitpersonen nach Carl Huter beschrieben. Amandus Kupfer

Da es innerhalb der Gattung Entwicklungsgrade vom primitiven Urmenschen bis zum hochentwickelten Kulturmenschen der neueren Zeit gibt, ist Beobachtung, Messung und Vergleichung aller Menschen notwendig. 

[Anmerkung Timm: „Das Buch von 1941“, in Not und Gefahr vor der Gestapo vom bedeutsamsten Schüler Huters, nämlich Amandus Kupfer, geschrieben, vergleicht s.43 die Urmenschenstirn Hitlers mit Urmenschen. Hier in Rubrik „Licht“]. 

Wäre diese praktisch durchführbar, man hätte dann einen Durchschnitt als Norm zur Verfügung, der sich auf naturgegebene Verhältnisse stützt. Diese Auffindung ist natürlich eine Fixion, die nur teilweise durchführbar ist. Derartige Forschungsergebnisse legte man in Künstlerkreisen schon im Altertum in einem Kanon nieder. Ein solcher kann als Richtschnur in zweifacher Weise Verwendung finden, entweder als Ausgangspunkt für die Abwandlungen aller Sonderfälle künstlerischer Gestaltung, wie es die Griechen für ihren Götterhimmel taten. Oder er kann für die Gestaltung des vollendeten Edelmenschen, die in der höchstmöglichen Schönheit in Erscheinung treten müsste, wie es in der italienischen Renaissance erstrebt wurde, dienen.

In diesem Falle hat man es mit einem Gattungsideal zu tun. Die vielzitierten Maßangaben Vitruvs sind als Versuch einer Gattungsproportion anzusprechen. Aber wie schon Dürer bemängelte, waren nur Angaben für den männlichen Körper gegeben. Ein auf beide Geschlechter zu beziehender, also geschlechtsloser Kanon ist erst im neunzehnten Jahrhundert in gemeinsamer Arbeit des deutschen Arztes, Carl G. Carus mit dem Bildhauer Rietschel geschaffen worden. Übrigens zeigen diese Überlegungen auch den Unterschied der Prinzipien zwischen dem altgriechischen und dem Renaissance-Kunstschaffen auf. Jene huldigen wie bereits betont dem Prinzip der Charakteristik, diese aber dem Streben nach einem Gattungsideal.

Die Menschheitsideen der Humanisten wurden nicht nur theoretisch verfochten, sondern Maler und Bildhauer versuchten sie auch zur Anschauung zu bringen. Die einheitlich fixierbare Gattungsschönheit, den Inbegriff menschlichen Schönheitsideal aufzuzeigen, war ihr Ziel. In ihren Proportionstheorien unternahmen sie, ihr Ideal mathematisch zu fixieren. Die Gattungsschönheit ist es, die in der modernen Proportionsliteratur als ideale, einheitliche, absolute, formale Schönheit, Normalproportion, uniformes Schema etc. benannt wird. Weil man diese Begriffe nicht recht abzugrenzen vermochte gegen den Naturellbegriff, kamen diese Diskussionen in der Dürerliteratur bisher zu keinem Klarheit bringenden Schlussergebnis.

Der Anatom Gustav Fritsch hat in einem Werke eigens ein Kapitel der Geschichte der Proportionslehren bis zur Neuzeit gewidmet, worin er aber ebenfalls Dürer nicht unterbringen kann: "So sehen wir aus der Vergleichung der Kunstwerke, daß eine Norm von überraschender Bestimmtheit allen Darstellungen der menschlichen Gestalt zu Grunde liegt, welche Anspruch auf vollendete Form erheben könne. Es entwickelt sich vor unseren Augen aus den Vergleichungen ein scharf umrissenes Schönheitsideal, die Gestalt des normal-idealen Menschen, wie derselbe gleichzeitig als Kulturmensch ein gewisses Maximum der Vollkommenheit erreicht hat".64  Daß die Gattungsproportion auch aus den Werken der idealen Kunstrichtung gewonnen werden kann, ist durchaus verständlich, aber damit sind die Aufgaben der Anthropologie und, wie Dürer indirekt sagte, auch der Kunst noch nicht erfüllt. Es dürfen daher Dürers Proportionsnormen nicht mit in diese Untersuchungen einbegriffen werden.

Die Richtung jener Proportionslehren wird besonders in dem Kunstwillen Raffaels augenscheinlich. Über ihn sagte Lavater, daß seine Werke nur das Studium erhabener, edler, schöner Züge, nicht aber auch diejenigen minderwertiger, häßlicher, verbrecherischer Menschen ermögliche.65  Bei weniger großen Meistern wird das Schönheitsschema der Gattung leicht zur Schablone. Mit Recht bemerkt für diese Fälle Hugo Kükelhaus: "Wie denn überhaupt bei den Italienern das Ebenmaß, statt Spiegelbild des eignen Maßes, statt Ausdruck innerer Maßnahme zu sein, zur rechnerischen Seite der schönen Erscheinung wird".66 

Raffael: Ausschnitt Philosophenschule (Hinzugefügt)

In jungen Jahren bewegte Dürer sich in den Bahnen der Italiener. Da sie ihm aber unzureichend für seine Zwecke erschienen, "nahm er sich sein eigen Ding vor". Rastlos zwischen Naturbeobachtung und Spekulation fortschreitend, stellte er schließlich sowohl eine neue Proportionslehre, nämlich die der Naturelltypen, als auch Schönheitslehren, die auf sie begründet waren, auf den Plan. Ein anderes charakterologisches Prinzip und anderer anthropologischer Begriff, als denen der Italiener, liegt somit seiner Kunst zu Grunde. Sehr deutlich kritisierte er: "Aber etlich sind andern Meinung, reden darvan, wie die Menschen sollten sein. Solchs will ich mit ihnen nit kriegen. Ich halt aber in Solchem die Natur für Meister und der Menschen Wahn für Irrsal. Einmal hat der Schöpfer die Menschen gemacht, wie sie sein müssen, und ich halt, daß die recht Wohlgestalt und Hübschheit unter dem Haufen aller Menschen begriffen sei. Welcher das recht herausziehen kann, dem will ich mehr folgen dann dem, der ein neu erdichte Mass, der die Menschen kein Teil gehabt haben, machen will".67  Andernorts schrieb er: "Aber all die Maße, die ich hier beschreib und aufreiss, dovan will ich mit Niemand disputieren, ob man solch" (?? hier fehlt der Schluß von Dürer) Keineswegs darf nun diese Auffassung als glatter "Naturalismus" gewertet werden, eher schon als realistisch; denn Dürer sagte auch: "Aber je genauer dein Werk dem Leben gemäß ist in seiner Gestalt, je besser dein Werk erscheint".68 

Naturgemäß handelt nach ihm ein Künstler, wenn derselbe nach demjenigen Prinzip schafft, nach welchem auch die Natur seiner Einsicht nach wirksam ist. Es ist daher notwendig, sich zu vergewissern was Dürer mit diesem Prinzip erkannte. "Dürer zum Naturalisten zu stempeln ist ungerechtfertigt, solang nicht feststeht, was die Natur für Dürer war. Weil dieses bisher unterlassen und immer nur untersucht wurde, was Dürer unter Kunst verstanden habe, als ob der Naturbegriff zu allen Zeiten ein und derselbe gewesen sei".69 

Für Dürer müßten die Lebewesen ein von innerlichen Gestaltungsgesetzen organisiertes Reich der Körperformen gewesen sein. Deren Organisation geschieht nach dem Prinzip der Vergleichlichkeit, die für ihn das Hauptgesetz organischer Körpergestaltung war. "In dem Zusammenwirken von Verkehrung und Vergleichung durch Variation des Identischen (Gemeint ist die Variation der individuellen Eigentümlichkeiten innerhalb der menschlichen Gattung, d. Verf.) erkannte Dürer als das alle Gestalten bedingende Bildungsgesetz der schaffenden Natur".70 

Wie die Naturgewächse haben auch die Kunstgebilde sich dieser Ordnung zu fügen. Nach dieser Überlegung ist ein Kunstwerk dann naturgemäß, wenn das Motiv vergleichlich gestaltet ist. Dieses kann selbst eine Idee objektivieren, die in der Natur nicht vorhanden ist, wie diese oben erwähnt an den Beispielen der Drachen, Centauren etc.

So sind auch Dürers vier Apostel, trotz zahlreicher Konstruktionseinzelheiten, wie Naturgewächse; denn alles ist bei ihnen vergleichlich in der Proportion den Farben, den Gebärden und Emblemen. Klarheit für das Verständnis italienischer und deutscher Kunstbestrebungen bringt, wie man sieht, die scharfe, bisher nicht angewandte anthropologische Unterscheidung des Gattungsbegriffes vom Naturellbegriff.


Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Es muss daher ein energisches Veto eingelegt werden gegen die Behauptung, dass Dürers Kunstlehre "im Fahrwasser der Renaissancetheorien (soll heißen der italienischen, d. Verf.) schwimmt". Dürer hat mit heißem Bemühen in deutscher, antiker und italienischer Literatur gesucht. Was er an Erkenntnissen bei Andern vorfand, hat er anerkannt. Die vielen Anregungen halfen ihn auf den eigenen Weg, und sein Bemühen erfährt die Krönung in einem durchaus eigenständigen theoretischen Werk von großer Fruchtbarkeit. In der italienischen Kunst auf das Gattungsideal. Auf der anderen Seite in der Schule der niederländischen Kunst wo die Gefahr der Verwilderung bestand, beschritt Dürer durch seine Typenlehre einen Weg, worin die Vorzüge beider Kunstrichtungen in sich vereint wurden.



Erstellt 1999. Update 21. April 2007
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben. Albrecht Dürer und Carl Huter
 
The Gate/Das Tor