Die vier Apostel: 2 + 1 Tafeln - Part 9           Copyright 1999-2007 Wolfgang Timm
 
Bild oben Albrecht Dürer „Die vier Apostel“ Selbstbildnis. München. Ausschnitte. Das gerundete Auge

Fortsetzung

Die Schönheit / Kallisophie

Vergleichlichkeit und Proportionalität waren für Dürer, wie wir sahen, Erscheinungseigenschaften im Körperbau. Nicht aber machten sie für ihn das innere Wesen der Schönheit aus. Sie galten ihm für die Kunst und in der Natur als Schaffens- und Gestaltungsprinzipien, aber nicht als Wesenserklärungen in der Schönheit. Dies ist zuweilen verwechselt worden in der Dürerliteratur. Er erkannte sie nicht einmal als objektive Kriterien der Schönheit, die unabhängig von subjektiven Umständen der Zeit, Stimmung, des Charakters oder Alters eines Menschen benutzt werden könnten, bedingungslos an. Am deutlichsten kommt sein diesbezüglicher Skeptizismus über das Erkennen des Wesens der Schönheit in dem Ausspruch: "Schönheit, was das ist, das weiß ich nicht, wiewohl sie vielen Dingen anhanget", zum Vorschein.71 Dürer hat nicht etwa die Erkenntnis der Schönheit und ihre künstlerische Gestaltungsmöglichkeit geleugnet. Er zweifelte nur an der Unzulänglichkeit der menschlichen Urteilskraft: "Es lebt auch kein Mensch auf Erden, der beschließlich sprechen möcht, wie die allerschönst Gestalt des Menschen möcht sein. Niemand weiß das, dann Gott allein".72  

Trotzdem finden sich einige Auslassungen bei ihm über das Wesen und die Ursache der Schönheit. Ein Satz lautet: "Der Nutz ist ein Teil der Schönheit".73  Unter Nutzen wird Zweckmäßigkeit zu verstehen sein, wie es auch von italienischen Theoretikern z.B. Alberti gelehrt wurde. Demnach ist derjenige Bau eines Gegenstandes, diejenige Beschaffenheit eines Körperteils, der am vollkommensten seinen natürlichen Zweck erfüllt, schön. Dem Naturschönen galt in erster Linie Dürers Studium. Für die Italiener stand aber das Kunstschöne mit den aus der antiken Philosphie übernommenen Begriffen der "Analogia" und "Symmetria" im Mittelpunkte der Aufmerksamkeit.

Außerdem lebte in Dürer die Vorstellung, dass Tugendhaftigkeit und Schönheit Korrelate seien, daß die Schönheit die sichtbare Offenbarung des Guten ist. Der körperlich wirklich schöne Mensch besitzt einen edlen Charakter. Im Zusammenhang mit seinen Proportionsstudien war für ihn die altgriechische Weisheit Grundsatz, dass sich alles Gute durch Schönheit offenbart, und was schön ist nicht des richtigen Maßverhältnisses entbehrt. Die Schönheit war für ihn also etwas Objektives. 

Bachmann hebt mit Recht hervor, dass "die Nichtrationalisierbarkeit des Schönen für Dürer keinen Verzicht bedeutet, sondern eine Entdeckung".74  Ihm waren der Tugenden soviele, daß er sich zur Anerkennung eines allgemeinen einheitlich fixierbaren Schönheitsideals nicht entschließen konnte, und Schönheit als Qualitätsausdruck nur bedingt einwertete. Er erkannte bereits, dass die Vorzüge irgendeines Körperbaues und damit Charakters funktionell wieder Nachteile nach sich ziehen, dass jeder Mensch die Fehler und seine Vorzüge hat. So besitzt der Eine eine ausgeprägte Muskulatur und einen markant kraftvollen Knochenbau, ist also ein Athlet. Dabei hat er aber gering durchgeistigte Gesichtszüge. Ein anderer hat eine schwächliche Muskulatur aber einen leuchtenden nervenreichen Ausdruck als Merkmal hoher Intelligenz. Der Körperathlet kann eben kein Geistesathlet sein, und umgekehrt wie zarte Blumen in der Empfindlichkeit ihre Mängel einschließen. Beide Menschentypen sind an ihrem Ort zweckmäßig brauchbare, notwendige Glieder eines Volkes. Aber sie sind verschieden veranlagt und einseitig schön.

Die beiden Geschlechter haben einen abweichenden Körperbau und ihre Schönheiten sind durch besondere Eigenschaften bedingt. Die Vorzüge der Greisen- und Jugendschönheit sind gleichviel gepriesen worden. Unser Denker sagte: "Unterschiedliche Dinge, die beide schön sind, sind nicht leichtlich zu erkennen, welches schöner sei".75 "Aber die Hübschheit ist also im Menschen verfaßt, und unser Urteil so zweifelhaftig dorinnen, so wir etwa finden zween Menschen, beede fast schön und lieblich, und ist doch keiner dem andern gleich in keinem einigen Stück oder Teil, weder in Mass noch Art, wir verstehen auch nit, welcher schöner ist, so blind ist unser Erkenntnis".76 

Eine dritte Stelle lautet: "Schön und schöner ist uns nicht leichtlich zu erkennen. Dann es ist wohl möglich, daß zwei unterschiedlich Bild gemacht werden, keins dem andern gemäß, dicker und dünner, daß wir nicht wohl urteilen können, welches schöner sei".77 Die vier Apostel hat der Meister in ähnlichem Sinn gestaltet; was als weiterer wichtiger Punkt der Dürerschen Ästehtik noch eigen ist, auf welche kein anderer schriftstellender Zeitgenosse eingegangen, daß er eine Rangordnung, Grade der Schönheit von schön, schöner, am schönsten in der Gestalt und Physiognomie unterschieden wissen wollte.

In tiefer Einsicht hielt er die überhaupt höchst mögliche Schönheit weder für erkennbar, noch künstlerisch zu verwirklichen für möglich: "Gleichwie mit den Menschen, wie hübsch man ein findet, so mag noch ein schöner gefunden werden".78 "Aber nit bis zu dem Ende, daß es nit noch hübscher möcht sein. dann solches steigt nit in des Menschen Gemüt".79 

Am deutlichsten hat der Meister seine Ästhetik an seinen vier Aposteln vor Augen geführt, welche trotz größter Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere doch alle durch Schönheit ausgezeichnet sind, aber einmal ist der Grad derselben verschieden und zudem sind ihre Schönheiten einseitig. Also keine verschiedenen Arten einer "charakteristischen und idealen Schönheit" wie Fr. Müller annahm, sondern Grade von Schönheit unterschied Dürer. Der höchst möglich menschlichen Schönheit glaubte er am besten künstlerisch nahe zu kommen, wenn er sich an die von allen Extremen gleich weit entfernten Formen des Mittelmaßes halten würde: "Zwischen zu viel und zu wenig ist ein recht Mittel, des Fleiss dich zu treffen".80  Als Beispiel führt er an: "Kein spitzes Haupt, auch kein flaches sei wohl gestaltet, darum ist solches Mittel zwischen den andern".81 "Jene als abgeschiedene Dinge Verwunderung bringen, sind doch nit alle lieblich".82 

Das von Dürer gewählte Beispiel der Beschaffenheit der Scheitelwölbung ist im Lichte moderner Phrenologie ein sehr guter Prüfstein. In diesem Schädelteil kommt die Kraft des Gottesbewußtseins und der religiösen Tugenden zum Ausdruck. Je runder und plastischer der Scheitel gewölbt ist, desto edler ist jenes veranlagt. Ein spitzes oder flaches Oberhaupt ist entartetem religiösen Empfinden eigen. Daher mit Recht "ein rund Haupt hübsch geacht ist". Man sieht, daß die Methode Dürers "das recht Mittel zu treffen", ihn auf den Weg führte, die Schönheit edler Menschen zu finden. Für die Erkenntnis des physiognomisch Charakteristischen und der Formen- und Farbenschönheit hielt Dürer vornehmlich den Künstler disponiert: "Solches Urteil der schönen Gestalt steht bas in eines kunstreichen Malers Verstand, denn in der anderen Menschen".83 

Carl Huter - Liebe und Schönheit - Kallisophie


Zusammenfassung

Wir fassen zusammen, was Dürer über das Schönheitsproblem zu sagen hatte. Seine Lehren sind ein Ineinander greifen mehrerer Überlegungen:

1. Die Schönheit ist eine objektive, körperliche Eigenschaft, deren Ursachen mehrer sind, wie die Tugendhaftigkeit, Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit. Es sind also die innerliche Qualitäten, die dem Äußern des Körpers Schönheit verleihen. Über das letzte Wesen der Schönheit glaubt Dürer sich des Urteils enthalten zu müssen.
2. Die Schönheit ist von Fall zu Fall bei den Menschen relativ einzuschätzen, je nach ihrer Leistungsfähigkeit und Lebensaufgabe.
3. Vom hässlichsten bis zum schönsten Menschen ist gradweise eine Rangordnung der Schönheiten vorhanden.
4. Der höchste Schönheitsgrad ist für den Menschen weder vorstellbar, noch vom Künstler darzustellen möglich. Er ist eine über alle menschliche Erkenntnisfähigkeit und Darstellungen hinausgehende Eigenschaft Gottes.

Diese Übersicht zeigt, dass Dürer das Schönheitsproblem nicht nur gründlicher durch-dachte, als die Italiener, sondern auch, dass er für das Kunstschaffen vorerst das Natur-schöne festzustellen suchte, während die Italiener vornehmlich dem Kunstschönen ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Die moderne Ästhetik hat sich von Dürers Gründlichkeit und fruchtbaren Gedankengängen wenig anregen lassen. Lediglich physiognomische Forscher wie Lavater im achtzehnten und Huter im zwanzigsten Jahrhundert haben sich im Sinne Dürers bemüht. Der modernen Ästhetik fehlt das naturphilosophische Bindeglied zwischen Ästhetik und Ethik. Huter hat in seiner "Kallisophie" diese Beziehungen klar-gelegt, was schon Schiller beabsichtigte, ihm aber damals nicht gelingen konnte, da die Entwicklung der Naturforschung noch hierzu nicht gereift war. Hiermit wird der verirrten modernen Ethik und Ästhetik zugleich ein großer Dienst erwiesen, indem zur Synthese der Formalästhetik und Gehaltsästhetik, den beiden Hauptrichtungen moderner Schönheitslehren, führt.


Das Ethos der Kunst 

Die riesigen Anstrengungen, die Dürer sich während seiner Lebensarbeit auferlegte, entsprachen seinen Vorstellungen vom praktischen ethischen Gehalt, welches er dem Kunstschaffen beimaß. Den Bilderstürmern entgegentretend äußerte er: "Wiewohl etlich grob Menschen die Kunst hassen, wagen zu sagen, sie gebär Hoffart. Das kann nit sein. Dann Künst gibt Ursach der demütigen Gutwilligkeit. Aber gewöhnlich die nichts können, wöllen auch nichts lernen, verachten die Künst, sagen es kummt viel Übels darvan und etlich seien ganz bös. Das kann nit sein, dann Gott hat alle Künst beschaffen, darum müssen sie all gnadenreich, voll Tugend und gut sein. Darum halt ich die Künst für gut. Ein Schwert, das scharf ist, mag das nit zum Gericht oder Mord gebraucht werden? Ist darum das Schwert besser oder böser? Also in den Künsten. Der Mensch von guter frummer Natur wird gebessert durch viel Kunst. Dann sie geben zu erkennen das Gut aus dem Bösen".84 

Mit diesem tiefen Ernst, der sich in diesen Sätzen bekundet, ist Dürer auch an die Abfassung seines letzten großen Tafelwerkes, seine vier Apostel herangetreten. Sie sollten einerseits die hochgehenden Wogen der Kulturkampfstürme besänftigen, anderseits aber auch die Menschen veredeln helfen. Durch Versenkung in ihren Ausdrucksgehalt; denn die Kunst als Selbstzweck war den Künstlern der Renaissance etwas Unbekanntes.


Das Naturell

Die Beschaffenheit der anatomischen Struktur und der Größenverhältnisse und Masse von Rumpf, Gliedern und Kopf zueinander geben Aufschluss über die Naturellanlage eines Menschen. Es sind drei Grundtypen zu unterscheiden.

1)	Der korpulente, breitwüchsige Rumpf- oder Bauchmensch, das "Ernährungs-naturell". Bei diesem ist der Lebenswille auf Ruhe, reichliche Ernährung gerichtet mit einer konservativen, aufs Lebenspraktische orientierten Geistesanlage.

Ernährungsnaturell. Zeichnungen Carl Huter und Mellerke

2)	der starkknochige, langwüchsige, Arm- und Beinmensch, das "Bewegungsnaturell". Energische körperliche Kraftentfaltung, Tatenlust, fanatische Willensbestimmtheit, Verstandeskälte ist diesem eigen.

Bewegungsnaturell. Zeichnungen Carl Huter und Mellerke

3)	Der feingliedrige, zartwüchsige Kopfmensch, das "Empfindungsnaturell". Es objektiviert den Willen zum tiefen Erkennen und scharfen Denken. Aus diesem Naturell gehen die schöpferischen Persönlichkeiten hervor. Er ist das körperliche kleinste der Drei.

Empfindungsnaturell. Zeichnungen Carl Huter und Mellerke
Amandus Kupfer. Grundlagen Menschenkenntnis I. 1951. s.11, 12, 27, 28, 45, 46

Eingehende Beschreibungen wolle man in der Huter-Literatur zur Kenntnis nehmen. Außer diesen einseitig entwickelten Urtypen müssen noch Mischtypen festgestellt werden. Im Anschluß an unser Hauptthema ist noch anzuführen, daß die Naturelle nicht nach den überlieferten mathematischen Proportionsmethoden wie aliquarten Buchteilen oder einem Modul fixiert werden, sondern nach biologischen Befunden. Sie beziehen sich auf das Naturgegebene. Bei den Kennzeichnungen sind daher in erster Linie Maßenverhältnisse der Körperteile, welche durch die innere anatomische Struktur bedingt sind, berücksichtigt und keine Zahlengrößen. So schrieb Huter z.B.: "Ich lege bei meiner Naturellehre das gesamte Nervensystem zu Grunde".85  Dürer hat aber, wie wir gesehen haben, Wesentliches bei seinen Proportionstypen auch nicht mathematisch konstruiert, sondern intuitiv erfasst.

Vergleicht man die Typen der Dürerschen Proportionszeichnungen mit Huters Naturellen, so vermittelt die Ähnlichkeit die Einsicht, daß Dürer Typenforscher war.86


Das Temperament

Die moderne Tempermentslehre fußt mit ihrer Einteilung in vier Grundtemperamente des sanguinisch - heiteren, melancholisch - schwermütigen, energisch - cholerischen und des phlegmatisch - gleichgültigen Temperaments wie schon in der Renaissance, noch heute auf altgriechischen Klassifikationen.

Sie ist von Huter ihrers jahrtausende alten Thrones enthoben worden. Er hat ihnen eine weniger bedeutungsvolle Stellung in der Charakterologie zu gewiesen. Denn sie lassen nichts von dem Wesentlichen, dem Kern einer Persönlichkeit erkennen, wofür das Naturell weit mehr Anhalt bietet. Festzustellen sind die Temperamenteigenarten aus den Ausdrucksbewegungen, der Körperhaltung, Mimik und den Gebärden.


Das Geschlecht

Der Verschiedenartigkeit des männlichen und weiblichen Körperbaues und der funktionelle Ausdruck ihres Charakters ist in der neueren Psychologie viel Aufmerksamkeit gewidmet worden, so daß es sich erübrigt hier eingehendere Ausführungen zu machen.

Der gute Menschenkenner Nr.14. Amandus Kupfer


Der Impuls

Auf das Wesen des Impulselementes hier näher einzugehen erübrigt sich, da bei Dürer keine näher erwähnte Bezugsnahme in seinem Werk irgendwie gegeben ist.

(Anmerkung Timm: Näheres in Hauptwerk von Carl Huter - hier in web unter Rubrik „Hauptwerk“).


Das Individuelle

Der Individualcharakter kommt besonders im Kopfbau und Antlitz zum Vorschein. Er bietet das schwierigste Thema der Ausdruckswissenschaft. Alle Einzelheiten und Feinheiten der Gesichtsorgane, die Beschaffenheit von Haut und Haaren sind heranzu-ziehen für seine Deutung.

Wenn Dürer der bedeutendste Physiognomiker und Maler der Haut und Haare in der Ge-schichte der Malerei ist, so hat Huter erst die Wissenschaft der "Hautgewebs-physiognomik" begründet, durch welche anderseits Dürers künstlerische Leistungen auf diesem Gebiet eingehend untersucht und gedeutet werden können.

Der gute Menschenkenner Nr.31.  Amandus Kupfer. Schwaig bei Nürnberg. 1935

Huter hat für die Kopf- und Gesichtsformenanalyse einen Kanon geschaffen, der alles an diesbezüglichen Erkenntnissen enthält, was vom Altertum bis auf die Neuzeit gefunden ist. (Abb.) Sie bietet einen Auszug aus demselben. Das Original enthält noch weit mehr Daten, auf welche hier nicht weiter eingegangen werden kann. Der Kanon ist enthalten in Huters Hauptwerk "Menschenkenntnis" und seinem "Handbuch der Menschenkenntnis". Außerdem hat der Verfasser dieser Arbeit in einer Gedenkschrift Huters Prinzipien der Charakterologie eingehender besprochen. Der Untersuchung und Deutung der Köpfe der vier Apostel liegt dieser Kanon zu Grunde. 

(Anmerkung Timm: Peter Lips, Hamburg, hat 1938 zum 25. Todestag von Carl Huter seine Gedenkschrift „Die Prinzipien der Charakterologie“ verfasst. Schrift erschien in Hansischer Gildenverlag, Hamburg 11. Im Anhang schreibt Lips „In neuerer Zeit strebt man in anerkennenswerter Weise nach einer von allen Wertungen unabhängigen „reinen Charakterologie“, welche mit einer Terminologie operiert, die nicht auf irgendwelche praktische charakterologische Zwecke abzielt. Weit besser als das philosophisch orientierte Bezugssystem Ludwig Klages dürfte hierfür die „Kraftrichtungsordnungslehre Huters grundlegend sein. Auch diese wird in jüngerer Zeit nicht mehr nur belächelt, sondern medizinischerseits ernster Aufmerksamkeit und Nachprüfung gewürdigt (Siehe „Die Krise der Medizin“, 1928, von B. Aschner.) Die Kraftrichtungslehre erklärte Huter als die Schlüsselwissenschaft zu jeder Charakterologie. Sie behandelt mit Hilfe der Erfahrungen der Physik und Biologie das Zustandekommen aller Körperformen und Körperbewegungen und damit auch derjenigen des Menschen. Es werden die elektromagnetischen Kraftfelder mit ihren Achsen und Polen, die odischen Emanationen, die Lebenskraftstrahlungen (Heliodastrahlen) der Zellzentrosomen usw. am menschlichen Körper beschrieben. Damit ist eine echte, naturwissenschaftliche Psycho-Physik begründet. Jede einzelne Person ist von diesem Standpunkte als ein Dynamismus mit seiner Eigengesetzlichkeit aufzufassen. Die Formel dieser Wissenschaft lautet: Die Physiognomie ist eine Funktion von Kräften. Werden nun diese psycho-physikalischen Gesetzmäßigkeiten auf biologische, medizinische, soziologische, weltanschauliche, ethische, religiöse Verhältnisse bezogen oder für die Tierpsychologie angewendet, sollen sie also praktischen Zwecken nutzbar gemacht werden, so müssen die Erfahrungen entsprechend begrifflich ausgewertet und sprachlich fixiert werden. Z.B. der „elektrische“ Mensch oder das „elektrische“ Tier (Raubtiere) wirken zerstörend und werden dann als antisozial, disharmonisch oder verbrecherisch bezeichnet; der „magnetische“ Mensch ist egoistisch, willenshart; der „heliodische“ Mensch ist geistreich, schöpferisch, sensibel, usf.“).

Die vier Apostel sind als der Brennpunkt alles Könnens und Wollens des Meisters anzusehen. Trotz ihres überlebensgroßen Formates sind, vor allem die bis in allen Einzelheiten der Hautstruktur durchgearbeiteten Köpfe, Wunderwerke der Feinmalerei. Der Meister malte die Tafel zwei Jahre vor seinem Tode und hielt sie für seine größte Leistung, darauf er "mehr Fleiß denn auf andere Gemälde verwendete". Sie wurden nicht im Auftrag eines Bestellers gemalt, sondern er erfüllte mit ihnen seine künstlerische Mission. Sie entstanden aus ureigenstem Impuls seiner Persönlichkeit. Sie müssen daher auch ein Spiegel seines vielfältig differenzierten Charakters sein.

Dürer sah in dieser Malerei, dem geistigen Gehalt einen festen Anker in den Kulturkampfstürmen seiner Zeit, deren Wogen sich in Nürnberg heftig brachen. Die fertige Malerei bot er dem Rate seiner Vaterstadt als Geschenk an. Sie wurde angenommen und an hervorragender Stelle, in der "Losungsstube" des Rathauses aufgehängt.

 
Albrecht Dürers Warnung

Auf dem Rahmen wurden vom Künstler einige Zeilen angebracht, welche auf die von ihm hier objektivierte Idee hinweisen sollten: "Alle weltlichen Regenten in diesen gefahrvollen Zeiten sollen Acht haben, daß sie nicht menschliche Verführungen für das göttliche Wort nehmen". "Es gibt falsche Propheten. Hütet euch vor ihnen! Glaubt nicht jedem Geiste, sondern prüfet, ob sie von Gott sind".

Titanic 1912                 Bush und „911“                 USA 33.33 x Pi

Diese und noch andere Worte weisen darauf hin, daß mit dem Werk ein mehr weltlicher, als religiöser Zweck verfolgt wurde. Die Konzeption der zu Grunde liegenden Idee mag aus Diskussionen mit seinen Freunden über die zeitbewegenden Fragen stattgefunden haben. Willibald Pirkheimer soll einmal während solcher Debatten geäußert haben zu Dürers Ansichten: "Dergleichen lässt sich nicht malen! Dürer bewies aber, dass seine Idee sich doch malen ließ, eben in seinen vier Aposteln.

Bei der Besprechung wird es notwendig sein, jede einzelne Figur gründlich zu zergliedern. Es wird sich zeigen, dass Dürer es meisterhaft verstand aus der Natur "herauszureißen", was er für seine Zwecke brauchte. Fraglos kamen ihm für die Formung Erinnerungen aus der Porträtistentätigkeit zustatten. Anderseits wird er aber auch intuitiv seiner Idee Leben gegeben haben. Noch während der Ausführung scheint der Künstler mit seinen Problemen gerungen zu haben; denn aufmerksame Beobachter haben Korrekturen in der äußeren Malschicht festgestellt. Es soll z.B. die Ausladung von Stirn und Nase beim Johannes merklich vergrößert sein, was angesichts der charakterologischen Wertung der Oberstirnfunktionen zu beachten ist. Beim Paulus soll das ganze Haupt kleiner, die Stirn ursprünglich schmäler und der Kopf soll im reinen Profil zu sehen gewesen sein. Auch die Nase soll merklich kleiner gewesen und zweimal sogar verlängert worden sein, bis sie ihm passend schien. Fühlend stellte K. Voll fest, dass "diese Korrekturen Verbesserungen gewesen sind". Ob diese Veränderungen Verbesserungen oder Verschlechterungen seien, kann man doch erst objektiv beurteilen, wenn man die psychologische Bedeutung derselben kennt. In der Tat ist die Erklärung Volls zu unterschreiben. Ein noch kleinerer Kopf hätte einen allzu triebhaften, und zu wenig bewusst handelnden Menschen gekennzeichnet. Die breitere Stirn, bei geringerer Höhe entspricht einem umsichtigeren, vielseitig denkenden praktischen Verstand. Die Verlängerung der Nase Tatkraft, größere Planmäßigkeit und Überlegenheitsgefühl.


Die Deutung

Die geometrischen Faktoren

Die Komposition besteht aus einer Doppeltafel, auf der sich in strenger Symmetrie je zwei Gestalten befinden (Abb.). Jede einzelne wirkt monumental, und erinnert an die "Säulenstatuen" der gotischen Architektur. Die übernormale Größe von zehn Kopflängen und die kerzengerade Haltung, die allen mehr oder weniger eigen ist, werden mit Hilfe einer optischen Täuschung noch übersteigert: Das Bildganze wie je zwei Gestalten, ist in ein aufrecht stehendes Dreieck geordnet. Dadurch wirken die Körper noch länger, als sie dem Maß nach sind. Man könnte sie vielleicht auf elf Kopflängen schätzen. Dieser Befund kann nun nicht einfach mit der Erklärung "gotisiert" erledigt werden; denn was heißt das? Das Überschlanke erweckt die Vorstellung des Idealen und Erhabenen, was fraglos auch beabsichtigt wurde.

Die mehr oder weniger gerade, aufrechte, unverdrehte und ungewundene Körperhaltung im Verein mit den Senkrechten der Bildumrahmung rufen den Eindruck unerschütterlicher Standhaftigkeit und Beharrlichkeit hervor, womit sich die Figuren kunstgeschichtlich als zur Renaissanceepoche gehörig aufweisen. Aber noch mehr wird an Ausdruck durch geometrisch-optische Mittel erreicht. Die Senkrechte der Mittelachse wird durch eine imaginäre Waagerechte, die unter den Ellenbogen der beiden vorderen Gestalten vorzustellen ist, geschnitten. Diese Linienverhältnisse bilden ein stehendes Kreuz; welches das Gefühl trotzigen Kampfes wachruft. Die eben erwähnte Waagerechte gliedert die Bildfläche in zwei verschiedenwertige Flächen, in einen oberen kleineren und reich differenzierten, und einen unteren größeren und einfacheren Teil. Diese Teilung ist nach dem Verhältnismaß des Goldenen Schnittes vorgenommen, wodurch ein harmonisches Gleichgewicht der Einzelteile zueinander erreicht ist.

Durch diese Deutung der geometrischen Hauptfaktoren ist bereits Wesentliches der viel gerühmten Komposition erschlossen: das Erhabene und Ideale durch die übernormale Körperlänge, das Eigenkraftgefühl der aufrechten Körperhaltung, die Kampfeslust in der Kreuzform und die Harmonie des Ganzen durch die Aufteilung der Komposition nach dem Goldenen Schnitt. Außer diesen mathematischen Haupteigenschaften, sind innerhalb der Figuren noch Einzelheiten, die an ihrer Stelle besprochen werden, zu beachten.

Die vier Gestalten sind streng zentralperspektivisch zu einander ausgerichtet. Der Augpunkt liegt sehr niedrig, und sie scheinen daher im Raume der Sehpyramide wie in einem Trichter zu stehen. Der Augpunkt liegt in dem Schnittpunkt der eben besprochenen Waagerechten und Senkrechten. Die Waagerechte ist damit gleichzeitig die Horizontlinie. Letzte und die Aufteilung nach dem Goldenen Schnitt fallen also zusammen. Die Hände aller scheinen sich wie in einem Mittelpunkte durch diese optische Täuschung zusammen zu finden.

Durch diese zentralperspektivische Konstruktion wird durch diese optische Täuschung ein gewisser Ruhepol geschaffen, der eine Zusammenfassung der vier Figuren zu einer Gruppe wenigstens raumtechnisch bewirkt. Denn ein allen gemeinsames Handlungsziel ist nicht vorhanden.

In Hinsicht der Lichtperspektive ist zu bemerken, dass entgegen ihrem Gesetze es in der Raumtiefe heller, statt dunkler ist. Vor dem dunklen Hintergrunde heben sich die prägnanten hellfarbigen Charakterköpfe sehr wirksam ab. Dadurch ist jede einzelne Figur als Persönlichkeit gedacht, eine Welt, ein Sein für sich als Individualität, hervorgehoben. Vielleicht ist durch diese Widergesetzlichkeit etwas Faszinierendes in dieser Absicht erzielt. Die vier Apostel sind nicht der alleinige Fall, die entgegen dem Gesetz der Lichtperspektive von Dürer komponiert sind.

Wir kommen nun zur Untersuchung der einzelnen Gestalten. Eingehend werden Körperbau, Gesichts- und Schädelausdruck, Mimik, Gebärden und Farben beachtet werden müssen. Aus der Zergliederung muss dann die Deutung des Gesamtcharakters des Einzelnen erfolgen. Darauf muß sich aus der Erkenntnis jedes Einzelnen die Idee der Komposition ergeben.



Levitating Stone
(Hinzugefügt)


Erstellt 1999. Update 21. April 2007
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben. Albrecht Dürer und Carl Huter
 
The Gate/Das Tor