Die vier Apostel: 2 + 1 Tafeln - Part 12          Copyright 1999-2007 Wolfgang Timm
 
Bild oben Albrecht Dürer „Die vier Apostel“ Selbstbildnis. München. Ausschnitte. Das gerundete Auge

Fortsetzung

Schluss-Teil

Die Rangordnung der Geister - Das Aristokratische Prinzip in der Natur

Die Frage nach dem Sinn und Zweck, nach der Grundidee dieses Motivs ist eine vielgestellte. Selbstverständlich kann in dem Proportionswerk keine direkte Antwort zu finden sein, da es als Lehrbuch nur Anweisungen allgemeiner Art enthält, die als Grundlagen für den Sonderfall dienen sollen. Man ist also gezwungen, die Antwort aus dem Kunstwerk selber zu gewinnen.


Der gute Menschenkenner Nr.12.  Amandus Kupfer. Schwaig bei Nürnberg. 1933

Wir sahen bereits, dass Dürer, seinem Volk entgegen der Meinung Pirkheimers, mit den Aposteln aus den sozialen Wirren der Zeit einen Ausweg zeigen wollte. Er trat damit als Sozialethiker auf den Kampfplatz des Tages. Er wollte helfen, die Geschicke des deutschen Volkes zu einem Besseren zu lenken. Wenn andere Reformer durch die Macht des Wortes auf das Volk einwirkten, so war es ihm verliehen, als geborener Maler mit den Darstellungsmitteln der Formen, Farben und Linien zum Ausdruck zu bringen, was er wollte. Zeitgenössische Künstler erwiesen sich als Kritiker, da sie in ihren Karikaturen und fliegenden Blättern nur geißelten, was morsch und verkommen war, aber nicht, wie Dürer, einen Ausweg zeigten.

Für die Erkenntnis der Grundidee ist eine Orientierung über die geschichtlichen Hintergründe kulturell-politischer Art notwendig. Die Epoche, die man die "romanische" benennt, ist aus der frühmittelalterlichen hervorgegangen. In jener früheren Zeit fühlte sich jeder Einzelne innerhalb der germanischen Völkerschaften, wie es sich im Gudrun- und Nibelungenlied spiegelt, stammes- und sippengebunden. Als Einzelner war man bedeutungslos und galt nur etwas als Glied innerhalb der Verwandschaftsgrade. Im Verhältnis des Einzelnen zu seiner Sippe, lag im frühen Mittelalter der Kulturzusammenhang, das ethische Verhältnis der Zeit. Noch bei Ullrich von Huten klingt dieses Stammesbewusstsein nach.

Unter Carl d. G. begann ein Eingreifen in diese natürlich gewordenen Lebensformen der deutschen Stämme. Nicht in diesen, sondern in künstlich geschaffenen Korporationen und Organisationen der Mönchsorden mit ihren Klöstern, die trotz ihrer kulturellen Mission ehemals in erster Linie die altdeutschen Lebensformen zerstörten; dann im Lehenswesen mit der Unterordnung der Mannen unter den Ritter; weiter in den strengen Gemeinschaften der Bauhütten sollten sich die Menschen zusammenfinden. Nur die Organisationen galten, der Einzelne blieb unbekannt. Erst in der Gotik erwarb auch der Einzelne Beachtung und Schätzung; denn die Umstände drängten zum Erwachen des Individualbewusstseins.

Von phrenologischer Seite wird für diesen Entwicklungsvorgang des Bewusstseins eine interessante psycho-physiologische Erklärung gegeben: Die Stammesgebundenheit ist eine natürliche Äußerung der Vorherrschaft der Geselligkeit-, Verwandschafts- und Familientriebe, die im unteren Hinterhaupte lokalisiert sind. Das höhere Individualbewusstsein ist bedingt durch die intellektuellen Anlagen im Stirnhirn. Hier ist der Sitz des Oberbewusstseins. Letztes kam durch verschiedene, tief in das Seelenleben der Deutschen einschneidende Ereignisse zum Erwachen. Ein positiver Faktor war die Kultivierung des Verstandes, des Denk- und Urteilsvermögens durch die Pflege der Wissenschaften und Künste. Der platonischen und aristotelischen Philosophie wurde größte Förderung zu Teil, dies war eine Schulung des abstrakten Denkens.

Als negative Faktoren wirkten Leid und Tragik auf den Individualisierungsprozess ein. Das Zeitalter der Gotik muß reich an leidvollen Erleben gewesen. Einer der Größten jener Zeit, Meister Ekkehard erklärte tröstend, daß Leiden das schnellste Tier sei, das zur Vollkommenheit trägt. Die tiefste Tragik werden die Religionskämpfe jener Tage ausgelöst haben; denn nichts sitzt tiefer in des Menschen Brust, als religiöse weltanschauliche Vorstellungen, deren Störungen zu großen Gewissenskonflikten führt. Die religiöse Bevormundung der Kirche der in altgermanischen Gottesvorstellungen lebenden Deutschen hat nie aufgehört Schmerz auszulösen. Inquisition, Scheiterhaufen, Folterkammern, die Galgen- und Radjustiz haben Angst und Entsetzen hervorgerufen. Die Henkers und Folterknechte bildeten eine Anzahl im Volk. Anderseits wurde durch die einseitige Religiosität religiöse Ekstase gefördert herbeigeführt, die in den Geißlerfahrten, Flagellantenunwesen, Tanzepedemien ausarteten.

Das Motiv des Totentanzes erfreute sich bezeichnender Weise unter den Künstlern der Spätgotik großer Beliebtheit. Man empfand schließlich die hierarchischen Herrschaftsziele der Kirche, die also politisch und religiös zugleich waren, als seelische Nötigung und unerträglich drückenden Gewissens Zwang. Um 1450 und später spiegelt sich in etlichen Darstellungen in Malerei und Plastik die Geistesverfassung der breitesten Schichten des deutschen Volkes: Viele menschliche Figuren waren mit verdrehten, geduckten, verrenkten und gewundenen Körperhaltungen dargestellt. Mimik und Gebärden waren verzerrt und verzogen.

Das viele Leiden brachte schließlich in Verein mit der Verstandesschulung die Menschen zum Erwachen und führte, wie Jakob Burckhardt sagte, zur Entdeckung der Individualität, der Persönlichkeit. Es wurden soziale und religiöse Reformbestrebungen verschiedenster Art ausgelöst. Man ersehnte vor allem Selbständigkeit, Unabhängigkeit und moralische Selbstverantwortlichkeit. Dies kam auch wieder in vielen Kunstwerken zum Ausdruck. Man stellte nun den Menschen mit aufrechten, freien, selbstbewussten Körperhaltungen und den Merkmalen starker Eigengesetzlichkeitskraft dar. Es sind die Gebärden, an welche der Historiker die Zugehörigkeit eines Kunstwerkes zur Renaissance feststellt. So sind auch die vier Apostel Dürers Zeugen jener denkwürdigen Periode. Sie dokumentieren schon durch ihre aufrechte Haltung, Streben nach persönlicher Freiheit, edlen Stolz und moralischer Selbstverantwortlichkeit.

Dürer lebte in einer Zeit, in der die soziale Ordnung des Mittelalters, die vornehmlich durch das Ständewesen ihre Struktur erhielt, in Auflösung begriffen war. Das aufstrebende Bürgertum in den Städten begann, die Führung im kulturellen und sozialen Leben zu übernehmen. Während der berühmteste Stand des Mittelalters, der des Ritters, für dessen Anerkennung Hutten vergeblich kämpfte, im Niedergang begriffen war. Dieser Stand hatte sich mit dem Lehenswesen durch die veränderten Wirtschaftformen überlebt. Was hatten die "Laien" unabhängig von Priester, Kloster und Kirche, hervorgegangen aus dem Bürgertum, nicht alles geschaffen in der Gotik? Wissenschaft, Kunst und Technik waren von ihnen mächtig gefördert worden. Bezüglich der Kunst war das fünfzehnte und sechszehnte Jahrhundert die Blütezeit der "Bürgerlichen Kunst". Gutenberg, ein Bürger, hatte eine Erfindung gemacht, deren Wirkung ins Leben der Völker tief eingreifend waren. Die Weltmacht der Hanse war durch die Tüchtigkeit, den Fleiß und Wagemut der Städter geschaffen.

Der Sohn eines hanseatischen Kaufmanns aus Danzig wies der Erde eine bescheidenere Stellung zu, als die Vorzeit es getan, es war Kopernikus. Zwei andere Erfinder waren Nürnberger. M. Behaim konstruierte um 1500 einen neuen Erdglobus, und P. Henlein die Taschenuhr, das nachmalige "Nürnberger Ei". Gewaltig wurde in den Städten an den überlieferten Vorstellungen von Zeit und Raum, der Ordnung von Himmel und Erde gerüttelt. Kann es das Wunder nehmen, daß man auch an der bestehenden sozialen Ordnung zweifelte? Auch Dürer war ein Städter. Er war aus den unteren namenlosen Volksschichten emporgestiegen. Wenn auch er später in den Patrizierkreisen heimisch war, und sogar unter dem Hochadel Gönner und Freunde fand, so hat er diese Anerkennung erst seinen überragenden Leistungen zu verdanken. Seiner Herkunft nach konnte er tief inneren Anteil nehmen an dem nach Reform der sozialen Mißstände strebenden Bürger- und Bauerntum. Deren unterdrückter Wille entlud sich mit revolutionärer Wucht, Reformation, Bauernkrieg in den Jahren, als Dürer an seinen Aposteln arbeitete. Während dieser bewegten Zeit hat Dürer mit vielen führenden Persönlichkeiten Fühlung gehabt. Mit den wissenschaftlich und weltbürgerlich gesinnten Humanistenkreisen, die Menschheits- statt Gottesideale pflegten, hatte Dürer schon als junger Mann Bekanntschaft gemacht. Denn das damalige Nürnberg war einer der ersten Sitze der Künste und Wissenschaften. Zu führenden Humanisten wie Erasmus von Rotterdamm u.a. hat er nähere Beziehungen gehabt. Sein fortschrittlich gesinnter Lehrer Michael Wohlgemut trat durch den Holzschnitt in derber Satyre gegen das Papsttum auf.

Als die Reformationsbestrebungen in Wittenberg akut wurden, schloss Dürer sich als einer der Ersten Luther an, "der ihm aus großen Nöten geholfen habe". Aber Protestant und Lutheraner wurde er nur bis zu einer gewissen Grenze.93  Mit Lazarus Spengler, dem eigentlichen Reformator Nürnbergs war er befreundet. Aber auch zu dem Schweizer Zwingli hat Dürer nachweislich Beziehung gehabt. Ebenfalls Karlstadt und Thomas Münzer, die Führer der Wiedertäufer, haben ihn beeindruckt. Wurden doch aus seiner unmittelbaren Nähe Anhänger derselben, seine Gehilfen die Gebrüder Beham und Georg Penz wegen allzu radikaler Forderungen vom Rate aus der Stadt gewiesen. Aber trotz allem hat Dürer vom Katholizismus, gegen welchen alle eben erwähnten Bestrebungen gerichtet waren, nie vollständig Abstand genommen. Denn bei der katholischen Kirche fand er Verständnis und Schutz für das Kunstschaffen.

So lebte Dürer in einer vom Reformwillen zu neuer Ordnung des sozialen Gefüges genährten Atmosphäre, die zu atmen er sich nicht verschloss. Wir sehen ihn inmitten dieser Strömungen stehen, ohne dass er sich zu irgend einer Richtung ganz bekannte. Als Psychologe und Ethiker hat er denselben, innerlichst bewegt, die größte Aufmerk-samkeit gewidmet. Kritisch und philosophisch veranlagt, fand er bei allen Richtungen nur Teilwahrheiten, und fand ihre Forderungen nur teilweise berechtigt. Er machte Einseitigkeiten und Irrtümer nicht mit. Von allen Lehrmeinungen der Zeit suchte er sich gleich weit entfernt zu halten. Über allen stehend hat er seine eigene Ansicht gewissermaßen aus allen anderen herauskristallisiert.


Lebensweisheit

In einem Gedicht von ihm, betitelt: "Lebensweisheit" finden wir über seine Haltung Aufschluss:

			"Drum wenn die Leute sich entzweien,
			Häng dich an keine der Parteien;
			Und kannst du nicht Vermittlung finden,
			So bleibe du nur ganz weit hinten,
			Und hüte dich vor solchem Wust,
			Dass du nicht das Bad austrinken musst".

Ein anderer großer Zeitgenosse, Riemenschneider, hat sich nicht so weise abseits gehalten, und hat es bitter bereuen müssen. Der Tradition des Mittelalters war Dürer nur soweit verbunden, als er Gutes darin auch für die Zukunft erkannte. Für alles Neue war er ebenfalls nur soweit empfänglich, als er Gutes daran fand. So sehen wir in ihm einen Weisen und lebensklugen Mann, der altbewährtes Gedankengut mit neuen Ideen zu verbinden wußte, ihm und anderen zum Heil.

Diese Hinweise werden genügend zeigen, daß Dürers vier Apostel nicht irgendeiner der streitenden Richtungen gewidmet sein konnten. Keineswegs kann daher die Tafel als ein lutherisches Bekenntnis angesehen werden. Man muss in diesem Werk etwas ganz anderes, als nur konfessionelle Beziehungen suchen. Die Namen der Figuren als Apostel und Evangelisten sind von untergeordneter Bedeutung, selbst dann, wenn der Künstler teilweise versucht haben sollte, der Wesensart der vier Autoren des Neuen Testamentes im Bilde einigermaßen gerecht zu werden. Sie waren ihm nur ein Vorwand für eigengesetzliches Wollen. Schon Zeitgenossen sahen etwas anderes in den Gestalten, als Kirchenheilige, nämlich ein charakterologisches Motiv. So hat man von der Darstellung der vier Temperamente sprechen zu dürfen geglaubt. Hätte Dürer dies aber wirklich beabsichtigt, dann wäre einmal nicht einzusehen, weshalb die Malerei für den Sitzungssaal des Stadtrates, also einem politisch bedeutungsvollen Ort, bestimmt wurde. Außerdem hätte sie heute nur noch künstlerischen und historischen Wert. Die Untersuchung hat aber gezeigt, dass sie für die Gegenwart noch aktuell ist.

Dürer erlebte, dass die schöpferischen Fähigkeiten, die Träger des echten Naturadels, immer wieder neu aus der Tiefe des Volkes hervorgehen. Er erkannte als genialer Menschenbeobachter und Charakterologe, dass sowohl edle und geniale Menschen, als auch asoziales Verbrechertum in Hütten und Palästen geboren werden, und fühlte das Herz echten Geistesfürstentums unter Arbeiter- und Bauernkittel schlagen, und sah minderwertige Schmarotzer in prunkender Gewandung als hohe Würdenträger einher stolzieren. Die Charaktere entstehen eben unabhängig von Äußerlichkeiten wie Rang, Stand und Besitz. Daher kann es nicht verwunderlich sein, dass für Dürer und andere Ethiker eine sachliche Charakterwertung jedes neuen Erdenbürgers als Grundlage neuer sozialer Ordnung eine notwendige Forderung schien.

Da die tiefer denkenden und scharf beobachtenden Köpfe nun nicht an die Gleichwertigkeit aller Menschen glaubten, kamen sie nicht auf die Idee einer demokratischen Staatsordnung; denn diese fordert die Gleichberechtigung aller Individuen eines Volkes. Solches ist nach Plato die größte Ungerechtigkeit. Aus der Erkenntnis der Verschiedenwertigkeit der Charaktere folgerten sie eine sozial-aristokratische Rangordnung derselben. Wie bei einer militärischen Musterung unserer Tage die Männer nackend untersucht werden für die militärische Brauchbarkeit, so müsste auch jeder Einzelne psychiatrisch mit Hilfe der Physiognomik und anderen brauchbaren diagnostischen Methoden seinen Platz erhalten für das bürgerliche Leben. In diesem Sinne muss auch Dürer an eine kritische Prüfung und Auslese der Charaktere gedacht haben. Besonders die schriftlichen Hinweise auf dem Rahmen der vier Apostel sind als Beleg anzusehen: "Glaubt nicht jedem, was er sagt, sondern prüfet die Charaktere".

Jede Figur der Maltafel wirkt wie eine naturgewachsene Persönlichkeit, wie ein ganzer Mann. Daher wurde mit Recht mehr als einmal geäußert, dass hier "Charaktertypen" dargestellt seien. Über ihre Zuordnung ist man aber nicht einig geworden, und hat schließlich die Grundidee der Komposition nicht erkannt. Wie die vier Apostel nicht in sich selber ruhen, sondern ihr "sprechender" Ausdruck unverkennbar ist, und sie reden zu wollen scheinen zu jedem, der sie betrachtet, so wollte auch Dürer durch sie etwas sagen. Warum wählte er gerade diese Charaktere in der getroffenen Anordnung? Die Deutungen, die man auf Grund der Bibelautoren gegeben hat, sind ungenügend ausgefallen. Nach den eingehenden Untersuchungen muss Dürer anderes und mehr gewollt haben, als den Autoren des Neuen Testamentes ein Denkmal zu setzen. Es ist auch auffallend, dass er den Emblemen von Buch, Schwert und Schlüssel einen andern symbolischen Inhalt gegeben, als es traditionell üblich war.

Den Ausweg aus den sozialen Wirren der Zeit sah Dürer in einer Neuordnung des Volksganzen, durch eine richtige und natürliche Ordnung der Charaktere. Dass es sich bei dieser Malerei um Rangfragen handelt, ist selbst in der in konfessioneller Befangenheit verfassten Schrift von M. Zucker (Dürers Stellung zur Reformation. Erlangen 1866) anerkannt worden. Wir sahen bereits, dass Dürer eine Rangordnung der Schönheiten festgestellt hatte unter den Menschen. Da ihm Schönheit Ausdruck inneren Wesens war, müssten wir folgern, dass die Rangordnung der Schönheiten der vier Apostel die Idee einer "Rangordnung der Geister" objektivieren soll. Diese Idee war ihm die Lösung der sozialen Frage ihrem ganzen Umfange nach, und ist es heute noch. Es ist also ein sozial-ethisches Motiv, welches dieser Malerei zugrunde liegt.

Dürers Problemlösung der Auslese und Rangordnung wurde auch von andern Zeitgenossen und schon vor ihm gegeben. Von Luther finden wir in den Ausführungen "Über die Regimentsänderung" folgendes: "Aber das ist der Teufel und Plage in der Welt, dass wir in allen Dingen, als leiblicher Stärke, Größe, Schönheit, Gütern, Gesicht, Farbe usw. untereinander ungleich sind; und allein in der Weisheit und Glück alle wollen gleich sein, da wir doch am aller ungleichsten untereinander sind, und was wohl noch ärger ist, ein Jeglicher will hierin über den Andern sein und es kann den schändlichen Narren und Klüglingen Niemand nichts rechtes tun, wie Salomon spricht. "Ein Narr düngt sich klüger zu sein, denn sieben Weise, die das Recht setzen". Dieser grundsätzliche Standpunkt der Verschiedenwertigkeit der Charaktere und ihre natürliche Rangordnung äußert sich auch bei dem Zeitgenossen Machiavelli (1469-1527), der von intellektuellen Fähigkeiten aus erstens geniale, selbstschöpferische Menschen, zweitens nichtselbstschöpferische Talente, und drittens davon die indifferenten Massenmenschen unterschied. Schon in der Antike wurden von dem Gnostiker Valentinus um 150 n.Chr. die Menschen nach ihrer Gottnähe oder -Ferne gruppiert: die Hykliker, Psychiker und Pneumatiker. Die ersten sind zur Gotterkenntnis unfähig, die zweiten sind darin belehrbar und die letzten sind die Erleuchteten.

Versuche unter den Charakteren eine Rangordnung festzustellen waren jedenfalls in Dürers Tagen nichts Unbekanntes. Zumal auch eine solche in der Hierarchie der Kirche und der im Niedergang befindlichen Ständeordnung bestand. Auf die Rangordnung der Charaktere als das Fundament einer harmonischen und entwicklungsfähigen Gesellschaftsordnung haben in neuerer Zeit Schiller im Demetrius, mit seiner Erklärung, wir zählen nicht, sondern wägen; Freiherr von Stein, Schopenhauer, Nitsche, Huter u.a. hingewiesen. Es ist das Prinzip der Sozialaristokratie auf psychologischer Grundlage, welches dem demokratischen mit seiner Voraussetzung der Gleichberechtigung aller Menschen, kritisch entgegentritt. Jener sozialaristokratische Standpunkt wurde bereits von Plato in seinem Werk über den Staat vor mehr als zweitausend Jahren, als der gerechteste gelehrt. Von diesem sind auch die Humanisten und mit ihnen Dürer und Luther angeregt worden.

Vergegenwärtigen wir uns das Schlussergebnis der Deutungen der vier Apostel! Wir fanden im Johannes den genialen, schöpferischen Geistesmenschen, im Paulus den Kämpfer und Organisator, im Petrus den Gelehrten und im Markus den Menschen der körperlichen Arbeit repräsentiert. Thausing und Wölfflin sahen im Paulus den "Haupt-kopf", was wir nach unseren Untersuchungen nicht unterstreichen können. Vielmehr müssen wir diese Würde Johannes zusprechen; denn die Genies schaffen erst die lebens- und kulturgestaltenden Werte, für welche die Talente sich einsetzen können. So sind für alle verbessernden Umgestaltungen des Volkslebens und der Regierungsformen erst geniale Männer oft Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte vorher die Ideeanreger gewesen.

Die Paulusnaturen setzen deren Erkenntnisse ins praktische Leben um. Ihrem Range nach sind den höchstwertigen Typen die grösstmöglichsten Förderungen von Staatswegen zu kommen zu lassen. Lehrte doch Plato im "Staat": "Sofern nicht entweder die Weisen in den Staaten als Könige herrschen oder die jetzt sogenannten Könige und Herrscher in echter und genügender Weise wirklich die Weisheit lieben, und wofern nicht so beides, nämlich staatliche Macht und Weisheitsliebe in eines zusammenfallen, und sofern nicht jene große Menge von Begabungen, die, gegenwärtig voneinander getrennt, je bloß den einen dieser beiden Wege wandeln, not-wendig ausgeschlossen wird, gibt es kein Aufhören der Übel für die Staaten und, glaube ich, auch nicht für das Menschengeschlecht."

Unsere geschichtlichen Hinweise haben genügend gezeigt, dass Dürers Malerei der Apostel aus den damaligen sozialen Umständen heraus konzipiert wurden. Aber in einer überragenden Schau hat er weit über den damaligen Stand der sozialen Dinge hinaus den Kern des Problems erfasst. Allerdings hat er ihn in einem zeitlich bedingten kirchlichen Gewande gebracht. Unter dem Namen von Kirchenheilungen hat er Repräsentanten für gewisse Lebensaufgaben vorgeführt.


Schlusswort - Peter Lips

Wer dieser Sinneserklärung der vier Apostel entgegnen würde, dass Dürers Gemälde eine Idee zugewiesen wird, die vom Standpunkte neuzeitlicher Lebensreformbestrebungen hineingedacht worden sei, dem haben wir einiges zu entgegnen. Um dies große Werk würdigen zu können, muss der Betrachter zunächst das Zeitbedingte dieser Malerei bei Seite lassen und den ethischen Kern heraus schälen. Er enthält ihren Dauerwert und ist in den Charakteren der Figuren zu suchen. Es erhebt sich dann die Frage, ob die Charakteranalysen zu der Folgerung einer Darstellung der Rangordnung der Geister berechtigen.

Wir sind der Überzeugung, dass unsere Ideenerklärungen die einzige Lösung des Geheimnisses dieses Gemäldes ist. Dass der Schöpfer desselben hierauf mehr Fleiß und Kraft als auf irgend eine andere Malerei aufwandte, beweist wie sehr sie ihm am Herzen lag. 

[Anmerkung Timm: Autor Peter Lips kannte in den 30er Jahren letztes Jahrhundert die Entschlüsselungsleistung vom heutigen Autor Volker Ritter zu den beiden Darstellungen von Albrecht Dürers „Die vier Apostel“, also inklusive eine Tafel Lempertz, nicht].

All sein großes Können und sein Wollen hat er hier im reinsten Lichte erstehen lassen. Mehrere Jahrhunderte wissenschaftlichen und ethischen Fortschritts aber bedurfte es, was Dürer teils bewusst, teils intuitiv in sein Werk hinein legte, um es bis in seinen Einzelheiten verstehen zu können. Außerdem kommt es bei einem Kunstwerk darauf an, was es jeder Generation zu bieten hat. Ohne Dauerwerte hätten uralte Kunstschöpfungen nur geschichtliche Bedeutung, aber keine kulturelle Wirkung mehr, d.h. sie könnten späteren Generationen nicht eine Quelle geistigen Wachstums sein. Sie sind es erfahrungsgemäß.

Kaphammel. Der goldene Schnitt. 2001

So erzeugen die gigantischen Pyramiden Altägyptens Ehrfurchtsgefühle, regen die besten Werke der buddhistischen Plastik zur inneren Versenkung und Kontemplation an, ruft das Innere der schönsten gotischen Kathedralen Begeisterung für das Ideale, für die Musik und den Lobgesang wach, und erwecken die Schöpfungen des Rokokos Lust zum heiteren Lebensgenuss. So sind auch die vier Apostel dem Menschen der Gegenwart und der Zukunft ein Denkmal grundsätzlicher Problemlösung der Sozialethik, zwecks natürlicher Ordnung und Gliederung eines Volkskörpers.

Wir beschließen diese Ausführungen mit den Worten eines modernen Autors, der für den Physiognomen Dürer ausgezeichnetes Verständnis bewies: "Dürer liebte die vergänglich schöne Natur in allen ihren Erscheinungen, aber er überließ sich auch gern den Visionen seiner Phantasie, während sein Geist den Kern der Dinge, das eigentliche Geheimnis der Form erfasste, und so wurde seine Natur hin- und her gedrängt und verlangte immer mehr nach einer Synthese seiner bewusst formalen und intuitiven Anlagen. Dieses glückte ihm in seinem letzten Werke den Aposteln, in denen er seinem Volke wie Goethe im Faust ein Vermächtnis hinterließ, dass nicht nur Gesinnung und Ausdruck eines erregten, für das deutsche Schicksal entscheidenden Zeitalters sich schloss, sondern ein in alle Zukunft fortwirkendes ethisches und künstlerisches Beispiel von großer Verpflichtung darstellt".94

Herausgeber Medical-Manager Wolfgang Timm schließt seine WELTPRMIERE der Erstveröffentlichung in der Internet-Matrix von Peter Lips, Hamburg, folgend mit Volker Ritter, Hamburg: „Die vier Apostel in den beiden Darstellungen von Albrecht Dürer“, München und Lempertz; nimmt abschliessend Bezug zu Gegenwart und Zukunft, sowie Carl Huters Menschenkenntnis.


Zum Erkenntnisfortschritt hinsichtlich beider Versionen 
Quelle: Volker Ritter, Kaufbeuren, 2001. s.149.

„a) Für die zwei Tafeln (von München) können (bei bildlicher Gleichheit mit der einen Tafel von Lempertz) die dort bestimmten Temperamente übernommen werden. Damit sind die Vier Apostel der zwei Tafeln (von München) nicht  mehr literarisch (durch Panofsky seit 1931) fremdbestimmt, sondern aus der bildimmanenten zugrunde liegenden Aussage-Ebene der Verborgenen Geometrie bestimmt: Johannes ist der Phlegmatiker, Petrus der Melancholiker, Markus der Choleriker und Paulus der Sanguiniker. b) Die zwei Tafeln (von München) sind konzipiert als Triumph-Pforte, als ehrenvolle Anlage für einen Verdienstvollen (für Wolf Stromer). c) Die Aufstellung der zwei Tafeln (von München) damals in Nürnberg, wie auch heute in der Alten Pinakothek in München, gibt in der Art der Präsentation (direkt nebeneinander und hoch aufgehängt zu sein nicht den Sinn der Ehrenpforte wieder: mit gegenseitigem Abstand und tief zu stehen, als Tor benutzbar zu sein. d) Die zwei Tafeln (von München) sind in einer konzeptionellen Verflechtung mit der einen Tafel (von Lempertz) angelegt. Beide Versionen ergänzen sich im Gegensatz (Verdienst/Mahnung; Allegorie/Symbol; Jakin und Boas als flankierende Säulen/ das Mittelbild als Arbeitstafel für die symbolischen Wege). e) Die eine Tafel (von Lempertz) hat eine komplette Verborgene Geometrie, auch mit dürerspezifischen Figuren. f) Die eine Tafel (von Lempertz) ist konzipiert als symbolische Arbeitstafel, als Arbeitsanleitung für zu Ermahnende (für die Regierenden). g) Die eine Tafel (von Lempertz) ist in einer konzeptionellen Verflechtung mit den zwei Tafeln (von München) angelegt. h) An Stelle des beabsichtigten Dankes („Pforte“) wird eine Ermahnung („Arbeitstafel“) an Wolf Stromer gegeben, und an der Stelle einer beabsichtigten Ermahnung wird ein Dank an den Rat der Stadt Nürnberg gegeben, der aber nicht als Dank/Ehrenpforte ankommt. (Die angefügte literarische Ermahnung sei hier vernachlässigt angesichts der Bedeutung der geometrischen Symbolebene für diese Werke.)“ 160, 162

(Anmerkung Timm: April 1912, sank die weltberühmte „Titanic“. Der Name steht für altes materielles Welt- und Menschenbild, welches heute unübersehbar an seinen Widersprüchen zerfällt. 4. Dezember 1912 starb Carl Huter in Dresden).


Titanic 1912       USA - Heute


Levitating Stone
(Hinzugefügt)


Erstellt 1999. Update 21. April 2007
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben. Albrecht Dürer und Carl Huter
 
The Gate/Das Tor