Menschenkenntnis Lehrbrief I. - Part 2
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

II. Teil:

Die Darlegung des experimentellen Teiles dieses Vortrags erfolgt in einem der nächstfolgenden Unterrichtsbriefe an Bildern, die Bedeutung der Psycho-Physiognomik für Kunst, Wissenschaft, Religion und praktisches Leben wird im nachfolgenden weiter nachgewiesen.



ZWEITER TEIL DES LEHRSTOFFES

Psycho-Physiognomische Betrachtungen und Erklärungen über vier aus dem Leben genommene Bilder Einige Charakterskizzen als Beweise, was und wie man schnell mit dieser Methode Menschen seelisch erfaßt und richtig bewerten lernt.


Ein althannoverscher Bauerntypus aus der Hildesheimer Gegend

Dieses vortreffliche Bild, das einen echten, biederen Bauern von altem Schrot und Korn darstellt, diente mir als Unterlage zu einem Gemälde, das ich 1889 im Auftrage der Familie herstellte. Der Mann selbst war schon vor vielen Jahren gestorben, und da man befürchtete, diese einzige Photographie würde auch bald der Vergänglichkeit anheim fallen, so wurde ein Familienporträt hergestellt: Meine Arbeit hatte die volle Zufriedenheit der damals noch lebenden einzigen Tochter des verehrten Herrn Helms gefunden, und zum Dank dafür schenkte sie mir auf meine Bitte am 23. Juni 1889 diese Originalphotographie zu wissenschaftlichen Studien und späteren Veröffentlichungen.

Wer sieht in diesem Bilde nicht auf den ersten Blick den Mann der Arbeit und der Tat, den Mann des Willens und des Vollbringens?

Bauer Helms

Menschen dieses Schlages sind die Träger jeder guten und vernünftigen Staatsordnung; sie sind konservativ im Festhalten des Guten und fortschrittlich in den nötigen Verbesserungen. Bauer Helms ist ein Mustermensch in seiner Art, sparsam, fleißig und doch freigebig, gutmütig und gerecht. Sein offener Blick verbirgt kein Falsch, aber desto mehr Lebensklugheit. Dem kann niemand ein X für ein U vormachen. Der Mann hat eine scharfe, durchdringende Beobachtungsgabe, ein klares Denken und eine vorzügliche Welt- und Menschen-kenntnis, die er sich aus eigener Erfahrung und Tüchtigkeit gesammelt hat. Dieses prägt sich in dem vortrefflichen Stirnansatz und in der sehr breiten Nasenwurzelbildung aus. 

Was wäre Helms geworden als Staatsmann, hätte er Gelegenheit gehabt, sich in höherer Politik und in Regierungsgeschäften zu betätigen? Ohne Frage einer der bedeutendsten Staatslenker, den sich ein Land, sein Volk hätte wählen können, hätte der Mann nur noch ein wenig mehr Elastizität und auch die dazu gehörige weltmännische Gewandtheit besessen!

Helms verbirgt eine königliche Natur, den uralten Landadel germanischer Rasse. Treue, Ehrbarkeit, Zuverlässigkeit sind typische Charakterzüge an ihm.

Was wäre Helms geworden ohne sein Bauerngut? Gesetzt den Fall, der Mann wäre durch Krieg oder sonstiges Unglück mit einem Schlage um sein ganzes Hab und Gut gekommen?

Helms hätte dann lieber Steine geklopft, als gebettelt, lieber trockenes Brot und Wurzeln gegessen, als jemand um einen Pfennig betrogen oder sonst hinterlistig etwas entwendet.

Helms würde in Fällen der Not lieber hungern und leiden, als Unrecht tun, aber er würde gewaltig ringen und kämpfen, sich empor zu arbeiten, sein Recht zu vertreten, und nichts würde er bei einer schmachvollen Ehrenkränkung auf sich sitzen lassen. Helms liebt Geld und Gut, Haus, Hof, Land und Vieh, aber höher als alles dieses stehen ihm doch die idealen Güter der Rechtschaffenheit, der Ehrbarkeit, der Pflichttreue und ein reines, gutes Gewissen. Helms wird kleine Ehrenkränkungen verzeihen und ist bei ihm angetanem Unrecht zur Versöhnung geneigt, wenn man ihn um Verzeihung bittet. Helms gibt gern den Armen und Hilfsbedürftigen sein Scherflein, er hilft in der Not seinem Nächsten, sorgt für seine Angehörigen und hilft, wenn`s sein muss, auch dem Fremden.

Helms lebt im Essen und Trinken sehr gut, er ist sogar etwas überernährt, was die vollen Wangen und die fetten Halsringe bekunden. Er trinkt gern zum Frühstück seinen Korn und ißt Wurst und Brot dazu, wie es in seiner Heimat Landessitte ist.

Er gehört weder zu den Vegetariern, noch zu den Alkoholfeinden, er ißt aber mehr Gemüse als Fleisch und nimmt den Alkohol nur in kleinen Mengen zu sich.

Von Helms könnte man noch viel erzählen, was sein Bild, seine Gestalt, sein Gesichtsausdruck zu uns spricht, und alles, was uns diese sagen, entsprach der Wirklichkeit und seinem vortrefflichen Lebenswandel.

Die knochigen Hände zeigen den unermüdlichen Landarbeiter, die feste Nase, das breite gewaltige edle Kinn, die festzusammengekniffenen Lippen die gewaltige Energie, den Wille zur Tat. 

Der Gesichtszug von der Nase abwärts zeigt Rechtschaffenheit mit Wohlwollen und guten Geschmack für gute Nahrung, aber auch für tüchtige und gute Menschen.

Der ganze Gesichtsausdruck hat etwas Eisernes im Wollen, Wesen und Charakter. Das Auge zeigt Lebensfreude und Liebe für das Geschlechtliche, soweit er es mit seinen sittlichen Anschauungen in Einklang bringen kann. Das sittlich Feste überwiegt entschieden jede sexuelle Schwäche.

Das gerade heruntergekämmte Haar hat er ganz so gekämmt, wie es ihm paßte; es ist nicht geschniegelt und gebügelt, um andern zu gefallen, denn Eitelkeit liegt ihm fern. Urwüchsigkeit, Eigenwillen und Selbstbewusstsein sind die typischen Merkmale dieser seltsamen Haarfrisur.

Die Mütze sitzt fest und schnurgerade auf dem Kopfe, ebenso fest und gerade ist auch sein Charakter.

Er liebt gesetzmäßige Ordnung in Haus und Hof, in seiner Gemeinde und im Staate, das bezeugt die fest zugeknöpfte Weste, der eng geschlossene Rock; er zwängt sich selbst in die Schranken der Gesetze ein: aber er bezeugt Liebe für freiere Bewegung, er möchte auch etwas mehr Luft in den althergebrachten Anschauungen haben, das zeigen seine ungezwungenen und mehr breiten und ausgedehnten Armhaltungen, die im Gegensatz zu den eng angeschlossenen, festgeknöpften Kleidern frei gehalten sind. Das bedeutet Achtung vor dem Alten, Erfüllung der bisherigen Sitten und Gesetze, aber auch mit mehr Sinn für Freiheit, Vernunft und Fortschritt gepaart. Bei vernünftigen Reformen in solchen Bahnen denkt Helms: da gehe ich mit.

Es ist mir eine Freude, meinen verstorbenen Landsmann hier richtig würdigen zu können; solche herrlichen Menschen fand ich viele unter hannoverschen Bauern.

Hoffentlich bildet sich der Geschmack nach dieser Schilderung einer edlen Menschennatur etwas um, so dass das Gigerltum moderner jugendlicher Hasenfüße bald ein Ende findet!

Nicht überbürdetes Vielwissen oder protzenhafte, geckenartige Kleidung machen den achtbaren Mann und brauchbaren Staatsbürger, sondern Arbeitsamkeit, Ehrbarkeit, Einfachheit, gesunde Wirtschaftlichkeit und Pflege der idealen Güter!


Gustav Nagel, der Naturmensch aus Arendsee bei Magdeburg

Um einen interessanten Menschen verstehen zu lernen, muss man sich bemühen, ihn objektiv zu beurteilen; in der Regel fallen die meisten Menschen zu ihrem eigenen Nachteil in den Fehler, etwas Eigenartiges oder Auffallendes ohne eigentlichen Grund herunterzureißen.

In der Welt werden oft Dinge geschmäht und beschimpft, die an sich ganz guter und harmloser Natur sind. So ists auch dem Gustav Nagel ergangen.

Gustav Nagel

Ich will mich daher bemühen, von Nagel ein reines objektives Bild zu geben, und lasse seine eigene Poesie in seiner besonderen Orthographie folgen: Nagel schreibt:
I.
"o köstlich ists zu gen an gottes hand dahin, wenn auch der weg oft dornenfol; das zil und gottes libe um so seliger das sind im angesichte gottes all wunden nichts, o gottes hand führt durch das ganze land."
II.
"o wen den leib der toten wir in libe schmükken aus so schaun sie beglükket unser tun, wir können wol nicht seen ihren geist doch sie umschweben uns."
III.
"o wer erst einmal hat genoßen das leben der natürlichkeit so ganz in der natur, wer tag und nacht fon frischer wald und wisenluft gekoset war, o wer die himmelsbilder tag und nacht in irer pracht geschauet hat, dazu das zauberhafte so
geheimnisfolle wen des waldes in der nacht, o den zits immer wieder zum wald o zu
dem walde hin." Nagel ist eine tief religiös und poetisch beanlagte Natur, doch von wenig Geist und Lebenshumor beseelt. Er ist der geborene Eigenwollige und Einsiedler.

Er hat etwas Monotones, fast Krankhaftes in seiner Sprache. Seine Stimmungsbilder erinnern an Lenau.

Der Irrenarzt Prof. JOLLY in Berlin ist der Meinung, Nagel leide an Paranoia, einer Art leichte Form von Geistesabnormität. Einmal ist Nagel wegen seiner naturmenschlichen Aufführungen zu Mk. 150.- Geldstrafe verurteilt worden, und der Richter hat gemeint, er (Nagel) möge zu den Hottentotten auswandern. Dieser Rat war nicht übel, es wird aber Gustav Nagel in seinem Innern tief gekränkt haben und schwer wird´s ihm auch werden, diese 150.- Mk. in bar aufzubringen.

Gustav Nagel ist eben kein Mensch der Tat und des Erwerbes, er ist ein Schwärmer, ein Gegenstück zu unserem realpraktischen Bauern Helms. Nagel erstrebt durchaus das Gute, wenn auch in etwas gedankenloser, kindlicher Einfalt.

Seine flache Mittelstirn zeigt wenig Scharfsinn und praktische Lebensklugheit, daher die vielen Differenzen mit den Behörden, die er wohl meist selbst verschuldet. Wer in unserem heutigen Staate nackt und wohl gar noch ohne Schurz umherlaufen gedenkt, wird immer auf allerlei Widerstand stoßen.

Der Körper von Nagel ist mit Ausnahme der Arme normal. Die Arme sind sehr schwach entwickelt, daraus ergibt sich die Unlust zu regelmäßiger, körperlicher Tätigkeit; auch in diesem Punkte steht Nagel im Gegensatz zu der Bauernnatur vom Schlage Helms`.

In den zarten Rumpf- und Gliederformen Nagels drückt sich mehr das Empfindungsleben aus, aller eisernen Tatkraft, wie sie z.B. das Soldatenleben mit sich bringt, abhold.

Er hat eine ausgezeichnet funktionierende Haut, welcher er auch seine Abhärtungsfähigkeit verdankt. Bauer Helms, obwohl von stärkerem Knochenbau, würde sich bei der Lebensweise Nagels den ersten Tag schon einen gewaltigen Schnupfen und steife Knochen holen.

Das Auge des Naturmenschen ist rein und offen; Nagel ist auch ohne Falsch, doch mit dem Unterschied zu Helms, daß er sehr eitel ist, was die ganze Gesichts-haltung verrät.

Der halbe Teil der Augenbrauen nach außenhin zeigt dünne durchsichtige Haare, auch sind über der Nasenwurzel die Brauen nicht zusammengewachsen; dieses sind sichere Zeichen, daß Nagel die Naturanlage zur Enthaltsamkeit und Keuschheit in sich trägt.

Die untere Stirnregion, besonders die schönen plastischen Wölbungen über den Augen zeigen Freude am Naturbeobachten, an poetischen Schilderungen und farbigen Landschaftsbildern.

Die Nase ist kräftig und hart in der Form, was in Verbindung mit der harten Ohrmuschel und dem ausgeprägten Kinn Beständigkeit in der Überzeugung, Leidensduldung und Durchführung bis zur Erreichung seines gesteckten Zieles, aber auch die Anlage zu unbeugsamer, fast fanatischer Einseitigkeit bekundet.

Nagel wird weder durch Tadel, noch durch Strafe von seinem Lebenswandel abzubringen sein, weil er sich dazu berechtigt glaubt. Darum kann man auch Nagel nicht böse sein.

Gegen die subjektiven Anschauungen Nagels läßt sich nichts einwenden; ob dieselben sich mit unserer nordischen Lebensordnung vertragen, ist ja seine Sache; er tut niemand wehe, den er nicht beherrscht, und wer möchte sich wohl von Nagel beherrschen lassen?

Menschen vom Schlage Nagels in großer Mehrzahl gedacht, würden einem modernen Staat ein merkwürdiges Gepräge geben. Ein solcher Staat würde kaum konkurrenzfähig unter anderen Staaten bleiben, weder wirtschaftlich noch politisch weder wissenschaftlich noch technisch, weder militärisch noch juristisch.

Bauer Helms und Gustav Nagel
Quelle: Hauptwerk. 2. Auflage. Lehrbrief 1. Hrsg. Amandus Kupfer. 1925

Nagel mag als ein Bahnbrecher körperlicher Abhärtung, er mag auch in seinem Wohlwollen, in seiner Milde als braver Mensch gelten, ein Mustermensch ist er ebensowenig, wie viele andere Schwärmer und Religionsstifter gewesen sind; da ist mir doch mein Bauer Helms lieber.


Fräulein Auguste und Fräulein Limy M. Zwei Schwestern aus einer rheinländischen Stadt

Diese beiden hochgeschätzten jungen Mädchen weichen in ihrem Äußeren und ihrer Lebensart vom Bauerntypus sowohl, als auch vom Naturmenschenbild weit ab. Es sind echte Kulturkinder unserer Zeit. Beide sind körperlich von schöner, hoher, schlanker Erscheinung, und beide sind geistig sehr begabt.

Die länglich edlen Hand- Fingerformen verraten Kunstsinn, Selbstüberlegung und Liebe für Lebensannehmlichkeit und Eleganz. Beider Augen schauen fröhlich in die Welt und verraten Pracht und Schönheitsliebe, sowie Liebe für Gesang und Musik.

Stadt

Gesicht und Körperhaltung zeigen jedoch Neigung zur Passivität, ein eiserner Will, ein durchdringendes Handeln, ein festes, absolutes, unabänderliches Wollen liegt beiden fern.

Es sind Naturen, die sich den gegenwärtigen Anschauungen unbedingt anpassen und nicht gern aus dem Rahmen der Mode oder Lebensanschauung heraustreten mögen. Eher lieben sie es, in diesem Rahmen der Sitte und Mode zu glänzen.

Beide haben eine schöne Stirne; die den offenen Fächer haltende, ältere Schwester A. zeigt in ihrer breiten, edlen, plastischen Unterstirn eine große Begabung für kunstgewerbliche, bildende Tätigkeit, für schöpferische Formen- und Farbengestalten, und Mund und Kinn verraten viel Geschmack, Impuls und Wohlgefälligkeit.

Die Stirn ist allseitig voll abgerundet plastisch und besonders auch oben nach dem Scheitel zu hoch und edel gewölbt.

Beide Schwestern haben von Liebe und Ehe eine ideale sittliche Anschauung, und sie verzichten lieber auf Eheglück und Lebensfreuden, auf Reichtum, Rang und Besitz, als dass sie diese, ihre idealen Prinzipien, preisgeben möchten.

Beide junge Damen haben körperlich und geistig die besten Gaben in sich, vortreffliche, gute Ehefrauen und Mütter zu werden. Möge ihnen das Glück in erwünschter Weise zuteil werden!


Friederike und Katlene T. aus Litauen. Zwei Bauernschwester vom Lande

Echte, urechte Litauer haben wir hier im Bilde vor uns. Diese breiten, vollen Gesichter zeigen eine urwüchsige Kraft der Rasse. Diese Menschen fühlen sich in der Einfachheit wohl; lieber in Lumpen gehüllt, als im Staat umhergehend, ist ihre Naturanlage.

Ganz entgegen den Stadtschwestern zeigen diese Landschwestern ein ganz anderes Gepräge in der Kleidung, Körperhaltung, im Gesichtsausdruck und in der Umgebung.

Land

Jene schauen hoffend, erwartend in die Zukunft, diese sehen selbstzufrieden in die Welt. Sie haben ihr Glück sozusagen; sie brauchen nichts weiter. Sie fühlen sich bei Rüben und Kartoffeln in ihrer Bauernhütte wohl und verrichten langsam und bedächtig ihre Tagesarbeit; sie essen sich auch satt und schlafen vor allem gut aus.

Nerven sind diesen Leuten unbekannte Dinge, sie leben sorglos ihr Dasein hin. Ihr Schicksal ist ihnen recht; sie wünschen sich nicht aus ihren Verhältnissen heraus und haben nur das Bedürfnis, allsonntäglich in die Kirche zu gehen und sich an Gottes Wort, Orgel und Gesang zu erbauen.

Es ist wahrhaftig eine Kunst, solchen Menschen den Seelenfrieden zu geben und zu erhalten. Eine Weltanschauung, die das vermag, kann keine schlechte sein. Die christliche Theologie hat fraglos, wie jede Religion, für die Menschen etwas Wohltätiges. Mag es Wahrheit oder Wissenschaft sein, was diese Kirche lehrt, was kümmert es diese armen, aber glücklichen Landbewohner, die Selbstzufriedenheit, das Lebensschicksal und die Religionslehre, der sie angehören, glücklich machen.

Es liegt ein tiefer Sinn in diesem Bilde. Man könnte diese beiden beneiden und zugleich bewundern in ihrer philosophischen Ruhe und die Art der Harmonie mit sich selbst und der Umgebung und Atmosphäre, in der sie leben.

Doch können nicht alle Menschen so sein und sind es auch nicht. Es gibt solche, die den Fortschritt lieben, die Wissenschaft bereichern, den Verkehr fördern, Städte bauen und Pracht entfalten, Ideale pflegen und ruh- und rastlos vorwärts drängen.

Was ist nun des Lebens gemeinsames Ziel in all diesen bunten Bildern?

Erste Aufgabe, aus eigenem natürlichen Gefühl Gesichter zu deuten.

                
1. Kant                        2. Nietsche                                  3. Beethoven                4. Napoleon
Quelle: Hauptwerk. 2. Auflage. Lehrbrief 1. Hrsg. Amandus Kupfer. 1925

An den beigefügten Bildern auf S. 20, welches die Porträts vierberühmter Männer darstellen, die alle ihrer Art Tüchtige leisteten, beurteile man aus eigener Anschauung und innerem Gefühl: 1. Die bedeutendste Verstandesschärfe. 2. Die bedeutendste Tatkraft. 3. Das bedeutendste Gemütsleben. 4. Die moralische Qualität in aufsteigender Linie. 5. Die physische Kraft. 6. Die wirtschaftliche und vernünftige Tüchtigkeit. 7. Die harmonische Bildung.

Bezeichne alle Ausdrucksformen, woran du das zu erkennen vermeinst.


Carl Huter Büste
(Bild links: DgM Nr. 24. Amandus Kupfer. 1934. Bild rechts: Huter-Büste Familie Kupfer. Foto W. Timm © 2002-2006)



DRITTER TEIL DES LEHRSTOFFES

Motto: "In den Formen lebt der Geist."

Die Eigenart der Huterschen Psycho-Physiognomik

In dem vorliegenden Werke, bestehend aus fünf Unterrichtsbriefen in praktischer Menschenkenntnis, will ich dem verehrten Schüler Anschauungsmaterial vor Augen führen, wie ich mich vom Porträtmaler zum Psycho-Physiognomiker herausbildete und den Geist in den Formen kennen lernte.


Raffael: Ausschnitt Philosophenschule
(Hinzugefügt)

Wie jeder Künstler aus seinem Innern heraus verschieden von einem andern sieht, beobachtet, denkt und empfindet, so zeichnet und malt er auch anders. Ein RAFFAEL malte die Madonna anders als ein HOLBEIN, ein DÜRER sah die menschlichen Gesichter mit anderen Augen als ein REMBRANDT, und jeder dachte und empfand über ein und denselben Gegenstand anders.

Jeder dieser Künstler hatte aber auch seine besondere Schule, und jeder Schüler suchte nach den Grundsätzen und Lehren seines Meisters zu arbeiten, um dem Lehrer und Meister möglichst nahe zu kommen. Jeder bedeutende Künstler hat in seiner Art Wertvolles geleistet; alle haben Gesichter, Köpfe, Leiber, Beine, Arme, Kleider, Himmel, Erde, Bäume, Gräser, Tiere, Blumen und Menschen gemalt, aber jeder malte mit anderen Augen, mit einer anderen Seele, mit anderen Farben und Strichen, kurz mit einem anderen Geiste und mit einer anderen Technik.

Genau so ist es auch in der Wissenschaft.  Ein ROBERT KOCH gleicht einem Detail-Maler. Er sah nur die kleinsten Lebewesen, die Kokken und Bazillen, vorzugsweise am Menschen; er untersuchte sie und gab sie so, wie er sie gesehen, der Welt wieder.

Rudolf Virchow
Quelle: Hauptwerk. 2. Auflage. Lehrbrief 1. Hrsg. Amandus Kupfer. 1925

Ein RUDOLF VIRCHOW sah schärfer als mancher andere Meister der Krankheitslehre die Veränderung im Gewebe, die Erkrankung der Zellen; er fand daher den höheren Wert der Medizin in einer neuen Zellentherapie. Ganz anders dachte ein HUFELAND über Krankheitslehre als ein KOCH, ein Dr. BOCK anders als ein Professor WINTERNITZ, Professor JÄGER anders als PASTEUR und LAHMANN anders als Professor BEHRING.

Denselben Vorgang können wir bei Staatsmännern, Heerführern, Komponisten, Dichtern, Philosophen, Schulmännern und Juristen beobachten.

Jede kraftvolle Natur geht ihre eigenen Wege, findet daher Neues und Nützliches und bereichert dadurch die idealen Güter der Menschheit.

Es wäre daher unklug und ungerecht, wollte man die Werke tüchtiger Meister herabsetzen, weil andere Wege gingen.

Richtiger ist es, man verschafft sich einen objektiven Einblick in das Wirken und Schaffen der tüchtigsten Männer und faßt das Wertvolle zusammen: nur so wird man allen gerecht und bereichert dadurch besser sein Wissen, als durch unvernünftige Überhebung des einen oder durch grundlose Herabsetzung des anderen, und vor allem
dient man so besser der Wahrheit.

Eins aber steht bei alledem fest, daß bei aller Teilarbeit auch Sammelarbeit vollbracht werden muß und schließlich, dass bei allem Fortschritt sich der wahre Fortschritt auch in aufsteigender Linie und nicht nur in die Breite bewegen darf; gerade diese auf steigende Linie tut in unserer Zeit besonders not, da wir von dem modernen Massenwissen in der Breite, das irrtümlich mit höchster Bildung verwechselt wird, geradezu erdrückt werden.

Mehr Konzentration, mehr Qualität als Quantität ist die Aufgabe der nächsten Kulturepoche, und in diesem Sinne suchte ich denn auch die Psycho-Physiognomik auszubauen.

Wenn sich bei manchem Teilgebiete Berührungspunkte mit schon bekanntem nachweisen lassen, so wird das keineswegs die Originalität der neuen Schöpfungen, welche in diesem Werke niedergelegt sind, aufheben.

Gewisse Wahrheiten, welche auch andere Forscher auf diesem Gebiete schon lange vor mir fanden, bleiben unerschütterlich und werden durch diese neue Lehre nicht abgeschwächt, sondern bekräftigt.

Laokoon. Rom
(Hinzugefügt)

So sind z.B. die gefundenen Merkmale eines BLUMENBACH über Rassentypen, oder die Entdeckung eines GALL über Gehirnfunktionen, die philosophischen Darlegungen eines LESSING über die Laokoongruppe, die geistreichen Ideen eines Joh. Jak. ENGEL über Mimik, die Forschungen CHARLES DARWIN über die Ähnlichkeit der Gemütsäußerungen bei Menschen und Tieren, soweit sie wirklich wahr sind, auch für alle Zeiten wahr, und daher behalten die Arbeiten dieser Forscher immerdar ihren unvergänglichen Wert.

Zu welcher Gattung von Forschern ich hierbei zähle, ob zum Teilarbeiter im einzelnen und kleinen, ob zum Sammelarbeiter in der Breite, oder zum Qualitätsarbeiter von tiefster Tiefe bis zur höchsten Vollendung, das zu beurteilen, wird der fleißige Schüler inne werden, der dieses Werk erfaßt hat und es dann nochmals im Vergleich mit ähnlichen Forschungen anderer Autoren durcharbeitet.

Er wird inne werden, daß ich alle drei Forschungsmethoden gut vereinige und den Hauptwert auf die letztere legte, nämlich darauf: "Wie tief dringen wir mit dieser Lehre in die Tiefen der bekannten und unbekannten Naturgeheimnisse ein, und wie hoch führt sie uns in unserer geistigen Entwicklung und idealen Weltanschauung empor?"

In dieser Art besteht wohl bis jetzt kein zweites Werk, das diesem an die Seite gestellt werden könnte, und infolgedessen bleibt die Psycho-Physiognomik, wie ich sie hier darlege, meine originale Schöpfung, mein geistiges Eigentum, das ich als Lohn meiner Arbeiten mit dem Wunsche in die Hände meine Schüler lege, daß es rein und unverfälscht, so wie ich es übergebe, erhalten bleiben und man gut damit wirtschaften und haushalten möge, zum eigenen und zu anderer Wohle.

Gehe jeder mit solcher Innigkeit der Liebe und Hoheit der heiligen Begeisterung, wie sie einen meiner hochgeschätzten Vorgänger, den unsterblichen JOHANN CASPAR LAVATER, auszeichneten, an das Studium dieser herrlichen Wissenschaft.

Hat unser LAVATER wissenschaftlich auch wenig Positives gegeben, so bleibe er jedem, der sich dem Studium physiognomischer Menschenkenntnis widmen will, ein Vorbild des höchsten und edelsten Strebens.

Er wurde allein schon im Forschen nach Menschenkenntnis ein vollendeter Edelmensch, obwohl er das Ziel der Erkenntnis nicht erreichte.

Physiognomische Fragmente       Johann Caspar Lavater 
(Hinzugefügt)

LAVATER ahnte und fühlte wohl den unendlichen Wert, den diese damals noch halbverborgene Wissenschaft, die er über alles liebte, und die er zu enträtseln suchte, in sich schließt.

Was aber weder diesem, noch sonst einem meiner Vorgänger gelungen ist, dieses eigenartige Gebiet in seinem ganzen Umfang mit praktisch greifbarem und idealem Nutzen zu erschließen, das ist hier als Resultat langjähriger Arbeit niedergelegt. Möge es jeder Studierende voll und ganz würdigen lernen.

Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Das Leitmotiv, das sich durch diese Lehre zieht, ist:
Von der Physiognomie (das ist Gesamt-Ausdruck der Dinge) zur Naturwissenschaft (das ist Einzelkenntnis der Dinge).
Von der Naturwissenschaft zur Psycho-Physiognomik (das ist neues Sehen und Einwerten des geistigen Wesens und des materiellen Inhalts der Dinge in natürlich erkennbaren, geoffenbarten Formen und Erscheinungen).
Von der Psycho-Physiognomik zur Kallisophie (das ist Schönheitsweisheit mit Schönheitsreligion vereinigt, was man aus der Natur als größte Offenbarungsquelle eben durch die Psycho-Physiognomik erlangt).
Darum: Wissen ist Macht, und die größte Wissensmacht ist praktische Natur- und Menschenkenntnis und die richtige Anwendung derselben die höchste Tugend.




Erstellt 1994. Update 12. April 2007
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage.  Hrsg. Amandus Kupfer. 1929

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
Hauptwerk - Lehrbrief 1 (von 5)
 
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