Menschenkenntnis Lehrbrief IV. - Part 25
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

NEUNTER TEIL DES LEHRSTOFFES
Der erste bedeutende Versuch der Begründung einer Physiognomik als Wissenschaft durch Johann Caspar Lavater (1769-1778)

Bevor ich näher auf Lavaters Lebenswerk eingehe, möchte ich einige Tatsachen und Aussprüche aus Lavaters Leben vorausschicken, die so recht die Vornehmheit und den hohen geistigen Adel dieses Mannes kennzeichnen. Er war ein Charakter, der oft nicht genug den notwendigen Kampf berücksichtigte und den Menschenkindern, die er liebte wie sein Herzblut, viel zu viel Gutes zutraute. Dieser Charakterzug ließ ihn selbst zum Opfer werden, und zwar gegenüber einem verrohten Napoleonischen Grenadier, der ihn, trotzdem LAVATER ihm Brot, Wein, Geld und die besten und gütigsten Worte schenkte, dennoch tödlich verletzte. Der edle Menschenfreund ist an den Folgen - für diesen Bösewicht noch Gnade flehend - gestorben*).

*) JOHANN CASPAR LAVATER, Sohn eines Arztes, geb. in Zürich den 15. Nov. 1741, gest. 2. Jan. 1801.

Physiognomische Fragmente       Johann Caspar Lavater 
(Hinzugefügt)

Ich meine, das heißt denn doch die Menschenliebe auf die Spitze zu treiben. Es wäre wohl besser gewesen, dieser Mordbube wäre niedergeschlagen worden und LAVATER leben geblieben. Der Attentäter hätte gehenkt werden müssen! Das Ungeziefer in Tier- und Menschengestalt fort und den Guten und Großen hochbringen, das ist die etwas gesündere Moral der Lebenswirklichkeit, welche die Hutersche Psycho-Physiognomik lehrt, und darin unterscheidet sie sich auch merklich von den Lavaterschen Lebensansichten. Eine Lebensansicht, nach der schließlich die Verbrecher zur Herrschaft gelangen, die Edlen aber zum Opfer fallen, ist eine ungesunde Moral, eine über das Ziel hinausgeschossene Humanität. Ein recht kennzeichnender Ausspruch Lavaters heißt:

"Sprich nie etwas Böses von einem Menschen, wenn du es nicht bestimmt weißt; und weißt du es, so frage dich, warum erzähle ich es?"

Mit richtigem Verständnis angewandt, ist das ein Wahlspruch, den jeder beherzigen sollte. Hat man aber einen Lügner, einen Verbrecher, einen ränkevollen Feind vor sich, so ist es Pflicht, denselben festzunageln, sobald die Wahrheit, das Gute und Schöne dadurch ins rechte Licht gerückt werden kann. Das möchte ich hinzufügen. Freilich soll man vorher geschickt versuchen, den böswilligen Menschen zuvor zum Besseren zu bringen, damit er selbst aus sich heraus den angerichteten Schaden wieder gut zu machen bestrebt ist. Gelingt das jedoch nicht, dann veranlasse man die Überweisung in eine Besserungsanstalt oder man gebe ihn der verdienten Gerechtigkeit preis, denn sonst würde man sich einer Begünstigung solcher Schädlinge schuldig machen.

LAVATER sagt an einer anderen Stelle: "Freilich ihr guten Seelen, ihr werdet blutige Tränen weinen, daß die Menschen so viel schlimmer sind, als ihr glaubet, aber sicherlich tausendmal auch Freudentränen weinen, als die allherrschende, allvergiftende Verleumdungs- und Verurteilungssucht sie verkündete": Lavaters Fragmente Bd. II, S. 40.


Was aber trieb LAVATER zur Physiognomik?
Er sagt in seinem Vorwort zum II. Bande seiner physiognomischen Fragmente, Seite 5:

"Menschen! Ich möchte mit euch den Menschen kennen und fühlen lernen; fühlen lernen, welch Glück und welche Ehre es ist, Mensch zu sein!"

"Menschen anschauen, Menschen kennen, Menschen lieben, Menschen nützen." Bd. II, S. 6.

"Unerträglich wird mir das bißchen Menschenkenntnis oder Physiognomik, das mir zuteil ward, wenn ich diese seligen Gefühle der Menschheit zertreten und allein die Fäden oder Seile, woran sie hängen - statt ihrer - beurteilt, getadelt - oder bewundert sehe; wenn ich, was Mittel sein sollte, Zweck werden sehe, wenn ich mich als positive Veranlassung - nur zu kleinlichen, entziffernden Menschenrichtereien - denken muß. - Wo ich Gottes Wahrheit im Besten, Schönsten, was im Menschen ist, im Menschengesichte, wo nicht darstellen, so doch ahnen lassen wollte; wo ich die Huld und belebende Milde des Vaters aller, wo ich seine einfach und tausendfach wirkende Weisheit andeuten, wo ich der Menschen Weisheit in Schweigen und Wirken lehren, wo ich die reinste, edelste Menschenfreude wecken, ausbreiten wollte." An einer noch anderen Stelle sagt LAVATER:

"Schlimme Anlagen hat eigentlich kein Mensch; moralisch gute, genau zu reden, auch keiner, keiner kommt lasterhaft und keiner tugendhaft auf die Welt. Alle Menschen sind anfangs Kinder, und alle neugeborenen Kinder sind nicht Bösewichter und nicht Tugendhelden." Ich möchte hierzu bemerken, daß nach meinen Forschungen und was auch LOMBROSO nachgewiesen hat, doch - leider muß man es aussprechen - Verbrecheranlagen wie auch Tugendanlagen angeboren werden. Gerade darum gehe ich auf das Liebes- und Geschlechtsleben tiefer ein als alle Physiognomiker vor mir, weil ich nur aus glücklichster Liebe, Zeugung und Schwangerschaft gut beanlagte Kinder entstehen sah.

Weiter sagt LAVATER: "Und nichts als die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnet uns den Weg zur Vergötterung."

Das ist richtig, auch ich sage: Selbsterkenntnis und Selbsterziehung führe zur Vergöttlichung der inneren und äußeren Natur. Aber vor allem muß die gute Anlagen und der gute Wille da sein, freilich dazu auch die wirtschaftliche Möglichkeit. Also auch die Zeugungs- und Wirtschaftsreform sei die erste Losung. dann hat die Psycho-Physiognomik den breiten Boden der Entfaltung. Der interssanteste Ausspruch Lavaters ist: "O Physiognomik, wann wirst Du, Schlüssel aller Geheimnisse, Ohr und Auge für alle Gotteswahrheit sein?" Ich glaube, diese Aussprüche genügen, uns in das Wesen dieses Mannes zu versenken und seine Lebensarbeit, die Herausgabe der fünf reich und gut illustrierten Physiognomischen Fragmente, würdigen zu lernen.

In diesem Sammelwerk, dessen Text auf gutes Büttenpapaier gedruck ist, hat LAVATER nach seiner besten Kraft viel schönes Material, meist vortreffliche Porträtzeichnungen in Kupferstichen, zusammengetragen und anregend und fesseld besprochen (1775-1778)*) Seit 1769 hat sich LAVATER mit der Idee, die Physiognomik wissenschaftlich zu begründen, beschäftigt. Im Jahre 1783 suchte ein Freund Lavaters (J. M. ARMBRUSTER) diese fünf umfangreichen Fragmente in gedrängter Kürze herauszugeben: J. C. Lavaters physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Winterthur 1783. Verlag Heinrich Steiner & Co.

Im Jahre 1829 erschien im Verlage von J. P. Bollinger, Wien, die letzte handliche Buchausgabe, ein Auszug aus Lavaters Lebenswerk.

In einem kleinen deutschen Konversations-Lexikon wird LAVATER als religiöser Schwärmer, als warmfühlende Natur, aber als phantastisch und unklar hingestellt!

Hätte sich dieser Biograph, der selbst in einem Atem eingesteht, daß L. mutig gegen die Gewalttaten der Franzosen aufgetreten ist und daß an seinen großen physiognomischen Fragmenten GOETHE großen Anteil hatte, etwas besonnener ausgedrückt, so könnte man das durchgehen lassen, so aber liegt in dieser Darstellung selbst ein Ungerechtigkeit gegen diesen Mann, was ich entschieden verurteilen muß. Denn mit solchen Worten ist LAVATER, mit denen die besten Forscher seiner Zeit zusammengearbeitet haben, in einem Lexikon nicht der Wahrheit entsprechend gekennzeichnet. Auf jeden Fall hätte dieses Urteil mit ganz anderen und aufklärenden Nachsätzen versehen werden müssen, um ein besseres Bild von LAVATER in dem Leser zu erwecken. Vergleicht man die von diesem Biographen vorgeführten Tatsachen miteinander, so muß der denkende Leser sorfort den Widerspruch herausfinden, der sich schon daraus ergibt, daß einer der größten deutschen Dichter, WOLFGANG VON GOETHE, sich nicht einen unklaren Phantasten oder religiösen Schwärmer zu seinem besten Geistesfreunde ausgesucht haben wird. Allerdings hat LAVATER nicht die Gabe gehabt, in der trockenen Art gewisser Philosophen oder Naturforscher zu schreiben, aber was er schrieb, war ihm klar. Nicht jeder ist geistig feinfühlend und psychologisch gebildet genug, um Lavaters Schriften zu verstehen. Auch JESUS, BUDDHA und MOHAMMED werden oft ungerechterweise als unklare Phantasten und religiöse Schwärmer hingestellt; die, die das tun, kennzeichnen damit nur ihren eigenen Charakter. Man muß stets einen Mann im Rahmen seiner Zeit betrachten, wenn man ihm gerecht werden will.

Man sieht an diesem Beispiele, daß manche Auskünfte der Lexika unzuverlässig und irreführend sein können, ähnlich so, wie es mitunter geschäftsmäßige Auskunftsbüros auch sind. Zu meiner Freude möchte ich noch feststellen, daß in dem neuesten großen Lexikon aus demselben Verlage LAVATER würdiger und gerechter besprochen worden ist.

LAVATER hat Anregungen gegeben und Grundsätze aufgestellt, welche von unvergänglichem Werte bleiben werden. Solche Lavaterschen Lehrsätze, die klar ausgesprochene Wahrheiten enthalten und ohne deren Berücksichtigung sich keine physio-, phreno-, psycho-, bio-, anthropologische und physiognomische Wissenschaft fortentwickeln läßt, will ich hier wiedergeben.

Freilich hat LAVATER auf große Vorgänger aufgebaut, er hat von GELLERT, MENGS1) und besonders von dem großen deutschen Lehrer der griechischen Kunstgeschichte und Erklärer der klassischen Ästhetik, WINKELMANN2), gelernt.

1) RAFEL MENGS über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei (Reclams Bibliothek, Leipzig). 
2) JOHANN JOACHIM WINKELMANN, geboren den 9. Dezember 1717 zu Stendal, Altmark, als Sohn eines Lehrers, gestorben am 8. Juni 1768 zu Triest. 

Auch sind dem LAVATER die Werke seiner Vorzeit, die von französischen und englischen Physiognomen herausgegeben sind, nicht unbekannt geblieben. Auch der Italiener DELLA PORTA ist für ihn anregend gewesen.

Alle diese beachtenswerten Vorarbeiten traf LAVATER an, als er an die Arbeit ging. Sein mit Feingefühl und psychologischem Seherblicke gepaartes Talent und seine Lust und Liebe zur Sache halfen ihm weiter. LAVATER wirkte nicht nur auf GOETHE und SCHILLER, sondern auf alle großen Männer und Frauen seiner Zeit ein, und besonders hat er, und das ist wiederum beachtenswert, wahrscheinlich auch auf LESSING3), den Reformator der deutschen Nationalliteratur und des geistigen Lebens, außerordentlich beeinflussend gewirkt.

3) GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, geb. am 22. Januar 1729 zu Kamenz, Sächsische Oberlausitz (Predigersohn).

Die Kette der großen deutschen Geistesheroen war: GELLERT, MENGS, WINKELMANN, LAVATER, LESSING, HERDER4), SCHILLER, GOETHE. 

4) HERDER: Über den Ursprung der Sprache, 1772. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, 1774. Ideen zur Philosophie der Menschheit, 1784-1791.

Dazwischen wirkten die Meister der klassischen Musik, die Meister der Philosophie und der neueren Staatskunst. Zahlreiche edle Fürstengestalten und die großen katholischen Theologen FREIHERR VON DALBERG5), Kurfürst von Mainz, FREIHERR VON WESSENBURG (KONSTANZ), Kardinal HOHENLOHE usw., Männer, die den Katholizismus in edelster Weise reformieren wollten. Ferner zog in die evangelische Theologie durch geniale Reformgeister ein neuer Geist ein.

5) FREIHERR VON DALBERG, Begründer des Deutschnationalen Theaters in Mannheim.

Ist das etwa Zufall, daß mitten in dieser Zeit LAVATER mit seiner physiognomischen Lehre wie eine leuchtende Sonne wirkte? Ist es Zufall, daß alle diese großen herrlichen Gestalten deutschnationalen Lebens die Propheten und Umgestalter einer neuen Zeit wurden und als leuchtende Vorbilder für alle Zeiten und Völker eine internationale Bedeutung gewonnen haben? Ist es nicht vielleicht gerade die Lehre der Physiognomik gewesen, die alle diese Großen liebten, und die direkt oder indirekt ihr Tun und Wirken beeinflußte?

Ja, verfolgen wir einmal die Geschichte! Keine große Epoche der wahren Höhenbildung, der aufsteigenden Fortentwicklung, ist ohne diese Kunst der Gesichts- und Körperformenkunde möglich gewesen. Die großen griechischen Bildhauer, Maler, Dichter und Philosophen, die großen Italiener LEONARDO DA VINCI, RAFFAEL, CORREGGIO, TIZIAN, die Niederländer RUBENS, REMBRANDT, VAN DYK, sie alle wurden durch ihr hervorragendes physiognomisches Beobachten, Schauen und Schaffen groß; und wie ist ein Dramatiker wie SHAKESPEARE zu denken ohne die Fähigkeit, Charaktere zu zeichnen - also ohne psycho-physiognomische Gestaltungskraft? -- Wodurch ist LESSING zu seiner unvergleichlichen Dramaturgie und zu seinen vollendeten Werken gelangt? Welche unsterbliche Arbeit hat er im Laokoon3) EMILIA GALOTTI, 1772. MINNA VON BARNHELM, 1703 und 1767. Nathan der Weise, 1779.  geschaffen?
 
3) LAOKOON, oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, 1780. LESSIG starb infolge Asthma den 15. Februar 1781 in Braunschweig.

Ja, überall leuchtet die befruchtende Kraft der Wahrheit, welche die Physiognomik in sich trägt, hindurch. Sicher steht nun fest, daß auch LESSING ebenso sehr Winkelmanns Schüler war, als es LAVATER gewesen ist. Auch steht fest, daß LESSING und LAVATER sich gegenseitig befruchtet haben. Beide zu fast gleicher Zeit lebend und ihre Werke schreibend, ist LESSING über LAVATER schließlich hinausgewachsen. Das hat LESSING in seinem unvergleichlichen Laokoon bewiesen. Ich komme später näher darauf zurück.


Lavaters physiognomische Thesen über die menschliche Natur
Aus Lavaters Werken habe ich ungefähr zehn beachtenswerte Thesen der Physiognomik herausgesucht und zusammen-gestellt. Dieselben sind folgende:

I. Von allen organischen Wesen, welche uns durch unsere Sinne bekannt sind, ist keines, in welchem sich drei ganz verschiedene Arten von Leben auf die wunderbarste Weise zu einem einzigen Ganzen vereinigen: Das tierische, das intellektuelle und das sittliche Leben. Jedes von diesen Leben ist ein Inbegriff der mannigfaltigsten Kräfte, die sich auf die unbegreiflichste Weise vereinfachen.

Erkennen - verlangen - handeln - oder wohl beobachten und denken - empfinden und anerzogen werden - sich bewegen und widerstehen - das ist es, was den Menschen zu einem intellektuellen, moralischen und physischen Wesen macht.

II. In der ganzen Natur ist kein Gegenstand, dessen Eigenschaften und Kräfte uns auf eine andere Weise merkbar werden, als durch äußerliche, in die Sinne fallende Anschaulichkeiten.

Aus diesen äußerlichen Bestandteilen ruht die Charakteristik aller Wesen - sie sind die Grundlage aller menschlichen Erkenntnisse. Der Mensch würde in der äußersten Unwissenheit - in Absicht auf die Gegenstände, die ihn umgeben, und in Absicht auf sich selbst herumirren, wenn nicht jede Kraft, jedes Leben in ein fühlbares Äußerliches sich ausdehnte, wenn nicht jeder Gegenstand einen seine Natur und seine Ausdehnung bestimmenden Charakter hätte, der uns das bezeichnet, was er ist, und uns in den Stand setzt, ihn von dem zu unterscheiden, was er nicht ist.

III. Alle Wesen, die wir erblicken, erscheinen uns unter irgendeiner Form, irgendeiner Oberfläche - wir sehen sie mit Grenzlinien bezeichnet, die das Resultat ihrer Organisation sind.

IV. Alle Gesichter der Menschen, alle Gestalten, alle Geschöpfe sind nicht nur nach ihren Klassen, Geschlechtern, Arten, sondern auch nach ihrer Individualität verschieden. Jede Einzelheit ist von jeder Einzelheit ihrer Art verschieden. Es ist die bekannteste aber für unsere Absicht die wichtigste, die entscheidendste Sache, die gesagt werden kann: "Es ist keine Rose einer Rose, kein Ei einem Ei, kein Aal einem Aale, kein Löwe einem Löwe, kein Adler einem Adler, kein Mensch einem anderen Menschen vollkommen ähnlich."

Es ist dies (damit wir beim Menschen stille stehen) der erste, der tiefste, sicherste, unzerstörbarste Grundstein der Physiognomik; daß bei aller Analogie und Gleichförmigkeit der unzähligen menschlichen Gestalten nicht zwei gefunden werden können, die, nebeneinander gestellt und genau verglichen, nicht merkbar unterschieden wären.

Nicht weniger unwidersprechlich ist es, daß ebensowenig zwei vollkommen ähnliche Gemütscharaktere, als zwei vollkommen ähnliche Gesichter zu finden sind.

V. Obgleich das physiologische, das intellektuelle und das moralische Leben des Menschen mit allen ihren untergeordneten Kräften und deren Bestandteilen sich auf die herrlichste Weise zu einem Wesen vereinigen; obgleich diese drei Arten von Leben nicht, wie drei abgesonderte Familien, je einen besonderen Platz des Menschenkörpers, eine besondere Etage bewohnen, sondern in jedem Punkte existieren und durch ihren Zusammenlauf ein Ganzes ausmachen: so ist es doch ausgemacht, daß jeder dieser Lebenskräfte einen eigenen Standpunkt hat, wo sie vorzüglich sich entwickelt und wirkt.

Sonnenklar ist es, daß die physische Kraft, wenn sie sich gleich durch den ganzen Körper, hauptsächlich durch alle tierischen Teile, ausdehnt, doch auf die frappanteste Weise im Arm von seiner Wurzel bis an die äußerste Fingerspitze wirkt.

Ebenso klar ist es, daß das intellektuelle Leben, die Kräfte des Verstandes und des Geistes sich vorzüglich in dem Umrisse und in der Lage der festeren Teile des Hauptes, besonders in der Stirn, entwickeln, ob sie gleich dem geschärften Blick eines aufmerksamen Beobachters in jedem Punkte des menschlichen Körpers merkbar sind durch Harmonie und Homogenität. Braucht es eines Beweises, daß die Denkkraft weder im Fuß, noch in der Hand, noch im Rückgrat, sondern im Haupte und in dem inneren Teile der Stirn ihren Sitz hat?

VI. Das moralische Leben des Menschen enthüllt sich vorzüglich in den Zügen und Veränderungen des Gesichts.

Die Summe seiner moralischen Kräfte und Begierlichkeiten, seine Reizbarkeit, jede Sympathie und Antipathie, deren er fähig ist, seine Macht, Gegenstände außer ihm an sich zu ziehen und wegzustoßen, malt sich auf seinem Gesichte, wenn es ruhig ist. Und der wirkliche Augenblick der gereizten Leidenschaft zeichnet sich in der Bewegung der Muskeln, die immer mit dem lebhaften Klopfen des Herzens so genau verschwistert ist, daß Ruhe des Gesichtes immer Ruhe in der Gegend des Herzens und der Brust voraussetzt.

VII. dieses dreifache Leben des Menschen, wie eng es auch in jedem Punkte des Körpers vereint ist, könnte doch wieder in verschiedene Fächer eingeteilt werden, wir würden Stoff genug haben, auch darüber zu physiognomisieren, wenn wir in einer weniger ausgearteten Welt lebten.

Das tierische Leben, die unterste, der Erde nächste Stufe, würde sich aus dem Kreise des Bauches bis zu den Zeugungsorganen ausdehnen, die sein Brennpunkt wären. Das mittlere oder das moralische Leben würde die Brust zum Sitz und das Herz zum Zentrum, zum Brennpunkte haben, das intellektuelle Leben, die erhabenste Stufe, würde das Haupt beherrschen, und das Auge wäre sein Brennpunkt.

VIII. Lasset uns nun das Gesicht als den Repräsentanten oder den Auszug dieser drei Abteilungen annehmen, so ist die Stirne bis zu den Augenbrauen Spiegel des Verstandes - Nase und Wangen Spiegel des moralischen und empfindsamen Lebens - Mund und Kinn Spiegel des animalischen Lebens, indes das Auge Summe des Ganzen wäre - ich könnte auch sagen: der verschlossene Mund im Zeitpunkte der höchsten Ruhe - ist das Zentrum, der Zusammenfluß und Inbegriff aller Radien der Physiognomie, ob man gleich nicht genug wiederholen kann, daß diese drei Leben bei dieser engen Verbindung untereinander in jedem Teile des Körpers auch überall ihren Ausdruck haben.

IX. Wir haben unseren Lesern schon vorher gesagt, daß sie keineswegs eine vollständige  Abhandlung über die Physiognomik von uns zu erwarten haben; vielleicht am Ende - oder einmal besonders eine Skizze des ganzen Systems. Um etwas Vollständiges zu liefern, müßte man abgesonderten physiologischen Teil, oder die äußere Charakteristik der physischen und tierischen Kräfte des Menschen - den intellektuellen, oder den Ausdruck der menschlichen Verstandeskräfte - den moralischen Teil oder den Ausdruck der fühlenden oder empfindlichen Kräfte des Menschen und seiner Reizbarkeit untersuchen.

X. Jede dieser drei Klassen verfielen dann von selbst in zwei Haupteile: in die unmittelbare Physiognomik, die den Charakter im Stande der Ruhe untersuchte; und in die Pathognomik, die ihn in seiner Bewegung entwickelte. Aber noch einmal wiederholen wir, daß wir in keinem Falle ein systematisches Ganzes weder geben wollen noch können.


Lobgesang auf die menschliche Natur
Von Johann Caspar Lavater

Wir kennen keine edlere, erhabenere, majestätischere Gestalt, um die sich so viele Fähigkeiten, so viele Arten von Leben, so viele Kräfte, so viele Wirkungen und Bewegungen wir um ihren Mittelpunkt drehen, als die seinige.

Mit kühnen Schritte schreitet er auf der Oberfläche der Erde einher und erhebt sein Haupt gegen den Himmel.

Sein Blick verliert sich in die Unendlichkeit. Mit der unbegreiflichsten Leichtigkeit und Geschwindigkeit handelnd, wirkt er durch die unmittelbarste und die vielfachste Berührung.

Wer zählt und beschreibt die Art seiner Wirkungen?

In dem nämlichen Moment kann er wirken und zugleich mehr leiden als jedes andere Geschöpf.

An seine Kühnheit knüpft er Biegsamkeit, an seine Kraft Geschicklichkeit und an seine Wirksamkeit Ruhe.

Unter allen Geschöpfen hat der die meiste Biegsamkeit und den meisten Widerstand - keines gleicht ihm an Vielfältigkeit und Einklang seiner Kräfte.

Die Fähigkeiten des Menschen sind einzig wie seine Gestalt.

Und wie viel herrlicher, anstaunenswürdiger, anziehender muß uns nicht diese Gestalt, sein, wenn sie uns ihre edelsten Kräfte - handelnd und leidend - enthüllt?

Nur in jenen Teilen, die die Behausung tierischer Kräfte sind, gleicht sie der Tiergestalt; aber wie sehr erhebt sie sich über das Tier in den Teilen, in welchen Kräfte höherer Abkunft, Kräfte des Geistes und der Tätigkeit wirken.

Die Gestalt, das Ebenmaß des Menschen, seine erhabene und doch so vielen Veränderungen, so verschiedenen Bewegungen fähige Größe - alles dieses kündigt den unparteiischen Beobachtern eine hervorstechende Kraft und die erstaunlichste Bewegsamkeit an; alles bezeichnet ihm im ersten Anblick die Trefflichkeit und die physiologische Einzigkeit der menschlichen Natur.

Das Haupt und am vorzüglichsten das Gesicht, die Gestaltsamkeit seiner festeren Teile, in Vergleichung mit den festeren Teilen jedes anderen Tieres, enthüllen dem tiefen Beobachter, der Sinn hat für echte Wahrheit, den Vorzug und die Erhabenheit der intellektuellen Kräfte.

Das Auge, der Blick, die Wangen, der Mund, die Oberfläche der Stirne - man betrachte sie nun in dem äußersten Stande der Ruhe, oder in den unzähligen Biegungen ihrer Bewegung - mit einem Wort:

Alles das, was man Physiognomie nennt, ist der redendste, lebendigste Ausdruck des inneren Gefühls, der Begierden, der Leidenschaften, des Willens, kurz alles dessen, was das sittliche Leben so sehr über das tierische erhöht.

Der Mensch ist von allen Produkten der Erde das allervollkommenste, das allerlebendigste. Jedes Sandkorn ist eine Unermeßlichkeit, jedes Blatt eine Welt; jedes Insekt ein Inbegriff von Unbegreiflichkeiten. Und wer will die Zwischenstufen zählen vom Insekt bis zum Menschen? In ihm vereinigen sich alle Kräfte der Natur; er ist der Extrakt der Schöpfung. Er ist zugleich der Sohn und der Herr der Erde, die Summe und der Mittelpunkt aller Existenzen, aller Kräfte, alles Lebens des Erdballs, welchen er bewohnt.


Lavaters Kritik über die unqualifizierten Kritiker der Physiognomik

In allem soll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln, allenthalben sollen sich Ursachen und Wirkungen entsprechen, allenthalben soll man nichts sicher wahrnehmen, als dies unaufhörliche Verhältnis von Wirkungen und Ursachen - und in dem schönsten, edelsten, was die Natur hervorgebracht hat - soll sie willkürlich, ohne Ordnung, ohne Gesetz handeln? Da, im menschlichen Angesichte, diesem Spiegel der Gottheit, dem herrlichsten aller ihrer uns bekannten Werke, - da soll nicht Wirkung und Ursache, da nicht Verhältnis zwischen dem Äußeren und Inneren, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Ursache und Wirkung statthaben?

Und das ist es, was alle Bestreiter der Physiognomik im Grunde behaupten. Sie machen die Wahrheit selbst zur unaufhörlichen Lügnerin, die ewige Ordnung zur willkürlichsten Taschenspielerin, die immer etwas anderes zeigt, als sie sehen lassen will.

Der gesunde Menschenverstand empört sich in der Tat gegen einen Menschen, der behaupten kann: daß NEWTON und LEIBNITZ allenfalls ausgesehen haben könnten wie ein geborener Narr, der keinen festen Tritt, keinen beobachtenden Blich tun kann und nicht vermögend ist, den gemeinsten abstrakten Satz zu begreifen oder mit Verstand auszusprechen; daß der eine von ihnen im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere, im Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht als auf Sechse zählen kann, und was darüber geht, unzählbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtstrahl gespalten hätte!

Der gesunde Menschenverstand empört sich gegen eine Behauptung wie diese: ein starker Mensch könne vollkommen so gesund aussehen wie ein schwacher, wie ein vollkommen schwindsüchtiger, ein feuriger, wie ein sanfter und kaltblütiger.

Er empört sich gegen die Behauptung: Freude, Traurigkeit, Wollust und Schmerz, Liebe und Haß hätten dieselben, das ist, gar keine Kennzeichen im Äußerlichen des Menschen. Und das behauptet der, der die Physiognomik ins Reich der Träumereien verbannt. Er verkehrt alle Ordnung und Verknüpfung der Dinge, wodurch sich die ewige Weisheit dem Verstande so preiswürdig macht.

Man kann es nicht genug sagen: Gesetzlose Willkürlichkeit ist die Philosophie der Toren, die Pest für die gesunde Naturlehre, Philosophie und Religion; diese allenthalben zu verbannen, ist das Werk des echten Naturforschers, des echten Weltweisen und des echten Theologen.

Eine der stärksten Einwendungen gegen die Zuverlässigkeit der Physiognomik ist: Die besten Physiognomiker urteilen oft äußerst unrichtig. Zugegeben, der Physiognomiker fehlt sehr oft - das ist - seine unvollkommene subjektive Einsicht betrügt ihn, nicht aber die objektive Physiognomie. Von den häufigen Fehlschlüssen und unrichtigen Urteilen der Physiognomiker gegen die Zuverlässigkeit der Physiognomik überhaupt schließen, heißt behaupten: "Es gibt keine Vernunft, weil jeder Vernünftige oft unvernünftig handelt." Wer nie urteilt, wird freilich auch nie falsch urteilen. Der Physiognomiker urteilt öfter als der, welcher die Physiognomik verlacht - und darum fehlt er auch öfter als der, der gar kein physiognomisches Urteil fällt.

Wenn ich bemerke, daß der Mensch mit den Augen sieht und mit den Ohren hört, und gewiß weiß, daß ihm die Augen zum Sehen gegeben sind und die Ohren zum Hören; wenn ich nicht mehr zweifeln kann, daß Augen und Ohren ihre genauer angebliche Bestimmung haben, so mache ich, dünkt mich, keinen unrichtigen Schluß, wenn ich denke, daß auch die übrigen Sinne und Glieder an demselben menschlichen Körper, der ein so zusammengegossenes Ganzes und Eins ist, ihre besondere Bestimmung und Verrichtung haben, obgleich ich vielleicht noch nicht dazu gekommen sein könnte, diese Bestimmung so mancher einzelner Sinne, Glieder und Eingeweide zu kennen. So, Mitforscher der Wahrheit, meine ich, verhält es sich mit der Bedeutung der Gesichtszüge des Menschen und der Zeichnung seines Körpers und aller seiner Glieder.

Mich dünkt es bei allen Untersuchungen kommt es erst darauf an: "Was für eine Sache, die behauptet wird, gesagt werden kann?" - Ein unumstößlicher Beweis für das Dasein und die Gewißheit einer Sache wiegt zehntausend Einwendungen auf. Ein positiver Zeuge, der von einer Seite seiner Einsicht und Redlichkeit alle mögliche Zuverlässigkeit hat, ein solcher gilt mehr als unzählige bloß negative.

Alle Einwendungen gegen eine gewisse Wahrheit sind eigentlich bloß negative Zeugen: "Das haben wir noch nicht wahrgenommen, das noch nicht erfahren." - Wenn Zehntausende das sagen, was beweist es gegen einen einzigen Verständigen und Redlichen, der sagen kann: "Aber ich habe es wahrgenommen, und ihr könnt es auch wahrnehmen, wenn ihr wollt." Gegen das in die Augen leuchtende Dasein einer Sache läßt sich keine gegründete Einwendung machen. Etwas Positives, ein Faktum kann durch nichts aufgehoben werden. Es läßt sich kein positives Faktum dagegen anführen ... Und alle Einwendungen dagegen sind nur negativ.

Man wende diese auf die Physiognomik an. Positive Beweise für die wahrhafte und erkennbare Bedeutung menschlicher Gesichter und Gesichtszüge, wider deren Klarheit und Zuverlässigkeit nicht eingewendet werden kann, machen unzählige Einwendungen, die vielleicht nicht beantwortet werden können, völlig unbedeutend. Man suche also erst sich mit dem Positiven, das die Physiognomik liefert, bekannt zu machen. Man halte sich erst allein an dem Gewißwahren fest, und man wird sich bald imstande befinden, sehr viele Einwendungen zu beantworten, oder als keiner Beantwortung würdig auf die Seite schaffen. Nach dem Maße, wie der Mensch das Positive bemerkt und festhält, - nach demselben läßt sich, wie mich deucht, seine Kraft und Ständigkeit messen. Der mittelmäßige, der seichte Kopf pflegt immer das Positive zu übersehen und mit dem unabtreiblichsten Eigensinn an dem Negativen zu kleben.


Die Physiognomik als Wissenschaft
Über die Physiognomik als Wissenschaft sagt LAVATER folgendes:

"Aber soll der geübte Beobachter, der feiner gebaute auch hier, wie in allen anderen Dingen, die Wissenschaft heißen, nicht mehr, nicht heller, nicht tiefer sehen? Nicht weiter fliegen? Nicht häufig Anmerkungen machen, die sich nicht in Worte kleiden, nicht in Regeln bringen lassen? Und sollte deswegen das, was sich in Zeichen ausdrücken und in Regeln mitteilen läßt, weniger Wissenschaft heißen? Hat die Physiognomik dies nicht mit allen Wissenschaften gemein? Oder, nochmals - wo ist die Wissenschaft, wo alles bestimmbar - nichts dem Geschmacke, dem Gefühle, dem Genius übrig gelassen sei? - Wehe der Wissenschaft, wenn eine solche wäre!

***

Wieviel Wissenschaften und Regeln haben den Genies und wieviel Genies den Wissenschaften und Regeln ihr Dasein zu verdanken?

ALBRECHT DÜRER maß und sah alles am Menschen; RAFFAEL maß und fühlte den Menschen noch mehr als DÜRER. 

Albrecht Dürer
(Hinzugefügt)

Albrecht Dürer: Adam und Eva
(Bild oben links u. rechts Ausschnitt. Bilder unten mit Darstellung verborgener Geometrie. Hinzugefügt)

Jener zeichnete Wahrheit wissenschaftlich; dieser gemessene idealisierte - doch oft nicht weniger wahre Natur. Der bloß wissenschaftliche Physiognomiker mißt wie DÜRER; das physiognomische Genie mißt und fühlt wie RAFFAEL.

Raffael: Ausschnitt Philosophenschule
(Hinzugefügt)

Je mehr indes die Beobachtung sich verschärft, die Sprache sich bereichert, die Zeichnungskunst fortschreitet, - der Mensch, das nächste und beste dieser Erde, den Menschen studiert, - je wissenschaftlicher das ist, desto bestimmter, desto lernbarer wird die Physiognomik. - Sie wird die Wissenschaft der Wissenschaften werden und dann keine Wissenschaft mehr sein - sondern Empfindung, schnelles Menschengefühl, Tochter und Mutter der Menschlichkeit!"

Wir haben nun gesehen, was LAVATER wollte, wie er fühlte und wie er dachte, ich komme nun zum Schlußteil, zu Lavaters Können als praktischer Physiognomiker und führe daher in mehreren Tafeln eine Anzahl Gesichter dem Leser vor Augen, und zwar auf zwei Tafeln solche mit Lavaters Originalbeurteilungen.


Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1994. Update 26. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
Hauptwerk - Lehrbrief 4 (von 5)
 
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