Menschenkenntnis Lehrbrief IV. - Part 22
 
Hauptwerk 1904-06. Carl Huter
Bearbeitung: Medical-Manager Wolfgang Timm

FORTSETZUNG

SIEBENTER TEIL DES LEHRSTOFFES
Die Physiologie in ihrer Beziehung zur Anatomie und Biologie des Menschen

Haben wir gesehen, daß die Anatomie die Lehre von den einzelnen Organen des menschlichen (auch des tierischen) Körpers ist, so lehrt die Physiologie die Lebenstätigkeit dieser einzelnen Organe erkennen. Wenn nun die Anatomie auch ein selbständiger Zweig der Wissenschaft vom Menschen ist, indem sie uns zuerst nachweist, was alles im Körper an Organen vorhanden ist, so kann sie doch nie ganz von der Physiologie getrennt werden. Alle wahrhaft großen Anatomen spielen mehr oder weniger in die Physiologie hinüber. Umgekehrt kann der Physiologe ohne Anatomie so viel wie gar nichts leisten, er muß unbedingt die Organkenntnisse zur Grundlage haben, bevor er die Lebenstätigkeit derselben zum Gegenstande seiner Untersuchungen machen kann. Der Physiologe ist also unbedingt auf Forschungsresultate der Anatomie angewiesen. Beide Wissenschaften sind durch ihre Eigenart selbst mehr analytische Forschungsmethoden, das heißt, sie gehen von der Einheit des menschlichen Körpers auf und enden in Hunderten, Tausenden, ja fast endlosen Einzelheiten der Organe und ihrer Lebenstätigkeiten. Weiß nun der Anatom oft nicht aus diesen endlosen Verzweigungen zielbewußt synthetisch zum Ganzen zurückzukehren, nicht nur zum Ganzen des toten, nein, zum Ganzen des lebenden Körpers, dann ist und bleibt alle seine Wissenschaft Stückwerk und Halbheit, das in den Händen des praktischen Arztes, der es nicht nur mit Einzelorganen, sondern stets in weit höherer Bedeutung mit dem Gesamtleben zu tun hat, ein nützliches, aber auch ein gefährliches Wissensinstrument werden kann. Genau so ist es auch mit der Physiologie; so unschätzbar diese Wissenschaft nicht minder als die Anatomie ist, so gefährlich kann eine Heilkunst werden, die nicht versteht, das Ganze des lebenden Menschen zu erfassen.

Wenn nun die Physiologie dahin erklärt wird, sie sei die Lehre vom Leben, so ist das nicht ganz genügend erklärt. Die Physiologie ist nicht die Lehre vom Leben schlechthin, sondern sie ist die Lehre von den einzelnen Lebensorganen und Lebensvorgängen. Somit ist die Physiologie eine analytische, die Biologie, die eigentliche Lehre vom Leben der Individualwesen, eine synthetische Wissenschaft. Es ist wichtig, daß dieses klar erkannt und festgehalten wird. Nichtsdestoweniger soll die Physiologie, so wie ich es bei der Anatomie für notwenig erachte, neben der analytischen eine synthetische Richtung pflegen und sich von den Einzelheiten der Untersuchungsobjekte mit klarem Blicke den Rückweg zum Ganzen, zum einheitlichen Leben sichern.

Leider ist dieses noch sehr wenig beobachtet worden, und so will ich versuchen, auch die Physiologie auf eine synthetische Grundlage zu stellen und sie in ähnlichem Sinne wie die Anatomie systematisch zu behandeln. Ich bemerke jedoch: Ich möchte unseren großen Meistern der physiologischen Wissenschaft keinesfalls damit einen Vorwurf machen, da es für den Physiologen weit schwieriger ist als für den Anatomen, die synthetische Methode ohne Nachteil für die analytische zu entwickeln. Ja, ich möchte beiden Richtungen, der Anatomie als auch der Physiologie, keineswegs vom Wege der analytischen Forschung abraten, es würde dies einen bedauerlichen Stillstand der Wissenschaft bedeuten. Aber ich möchte doch neben der analytischen Forschung die synthetische so weit berücksichtigt wissen, daß der angehende Heilbeflissene auch den klaren Überblick über das Leben behält und sich nicht in physiologischen und anatomischen Einzelheiten verliert, wobei er das Leben selbst leicht vergißt und, statt zum Helfer und Heiler, zum Zerstörer von Leben und Gesundheit werden kann.


Forderung Carl Huters: Einrichtung eines Lehrstuhles für Psycho-Physiognomik an Hochschulen
(Überschrift hinzugefügt)
Ich möchte daher hier den lebhaften Wunsch ansprechen, daß die Regierungen an jeder Hochschule bei der medizinischen Fakultät mindesten einen Lehrstuhl für synthetische Anatomie und Physiologie, einen zweiten für Anthropologie und einen dritten für Biologie und Psycho-Physiognomik einrichten. Es sind diese Fächer notwendige Zwischenglieder der Menschenkenntnis, welche unseren medi-zinischen Fakultäten meist gefehlt haben Die ersteren beiden sind teilweise in Berlin, München und Paris usw. vertreten, von der letzteren Richtung hat keine Universität bisher einen Lehrstuhl gehabt. Die Zeit wird aber kommen, daß hierin Wandel geschaffen wird.

Forderung: Einrichtung eines Lehrstuhles Psycho-Physiognomik an Hochschulen, medizinische Fakultäten
(Hinzugefügt)
Anmerkung Timm: Die Zeit ist nicht mehr fern, diese Forderung von Carl Huter vielleicht in ca. 5 Jahren um das Jahr 2012 offensiv an Regierungen und jeder Hochschule bei den medizinischen Fakultäten zu richten, nämlich die Forderung mit Nachdruck, einen Lehrstuhl für Psycho-Physiognomik einzurichten. In Deutschland könnte ich mir vorstellen, diesen ersten Lehrstuhl Huterscher Psycho-Physiognomik an der Universität Heidelberg, medizinische Fakultäten, einzurichten. Hierbei ist die konstruktive Zusammenarbeit deutschsprachiger Huter-Verbände in Deutschland und in der Schweiz erforderlich. Mit der Einrichtung des ersten Lehrstuhles Huterscher Psycho-Physiognomik kann überhaupt erstmals eine Wissenschaftliche Psychologie als echte Elite-Fakultät bahnbrechend in der Medizin etabliert werden. Die zusätzliche Implementierung entsprechenden Excellence-Modelles  von Qualitätsmanagement (EFQM) wird zu höchsten Punktbewertungen führen. Dies garantiert höchste Qualtitätsstufen in Ausbildung, Lehre und Forschung. Psychologie wird somit erstmals zur wirklichen Wissenschaft erhoben und Medizin bereichern! In Wechselwirkung zur Praxis sind bahnbrechende Behandlungserfolge zum Wohle von Patienten oder Klienten möglich.

Den Blick für das Leben, also biologisches Forschertalent, haben daher zahlreiche Laien oft besser bekundet als manche Wissenschaftler, weil es den letzteren, trotz ihres umfangreichen Studiums der Anatomie und Physiologie, an Zuführung von biologischen und psycho-physiognomischen Kenntnissen mangelte. Somit erklärt es sich, daß geniale Volksnaturärzte wie PRIESSNITZ, SCHROTH, KUHNE, THURE, BRANDT, KNEIPP, HESSING und andere, ohne Medizin und ohne Operation, viele Kranke geheilt haben, indem sie einfach die Lebensbedingungen einer Krankheit wegräumten und die Lebensbedingungen der Gesundheit, also des eigentlichen Lebens, an deren Stelle setzten. Wie viele Kranke werden heute noch unnötig operiert oder mit lebensvernichtenden Medikamenten behandelt, und beides, Medizin und Operation, führte oft zu unheilbarem endlosen Siechtum oder baldigem Tode.

Würden neben allem anatomischen und physiologischen Forschen und Wissen auch das Leben und seine Bedingungen mehr studiert und beachtet, dann würde die medizinische Wissenschaft und der Ärztestand ganz außerordentlich in den Augen des Volkes gewinnen, und das wünsche ich von Herzen. Aber möglich ist das nur auf dem Wege, wie ich ihn hier vorgezeichnet habe, durch eine Reform und Ergänzung der medizinischen Wissenschaft, wodurch dem Arzte die Mittel an die Hand gegeben werden, daß er nur durch wirklich bessere Erfolge sich die Stellung wieder erringt, die er in bezug auf das Vertrauen zu seiner Heilkunst vielfach verloren hat.

Denn die Fälle sind zu oft dagewesen, daß Laienärzte sich als Meister, sogenannte wissenschaftliche Ärzte aber als Irrende in der Krankenbehandlung und Heilkunst erwiesen haben, und alles Geschrei, daß solche geniale Heilkünstler Pfuscher und die Fehlermacher Meister seien, glaubt auch der einfachste Lüneburger Heidebauer nicht, denn er wandert zum Schäfer AST, sobald ihm sein Hausarzt nicht geholfen hat; und hilft AST, dann ist AST eben in den Augen nicht nur dieses Bauern, sondern überhaupt jedes gebildeten Menschen mindestens ein geborenes Heiltalent, dessen Wirksamkeit als Segen von zahlreichen Kranken gepriesen werden kann.

Es kann daher die freie Betätigung von Laien als Heilkünstler nur als wohltuender Ausgleich für Wissenschaft und Volkswohl vorteilhaft sein, denn wie ich später nachweisen werde, ist AST so dumm nicht, als er oft hingestellt wird, ja er ist ein instinktiver und intuitiver Forscher in bezug auf Haarformveränderungen bei Krankheiten. In diesem seinem Spezialgebiete hat AST unbewußt auch die psycho-physiognomische Lehre zu einem neuen Felde der Forschung angeregt.

Wie erklärt sich nun dieses Rätsel, daß Laien so genial sein können? Nun, weil die Natur selbst immer besonders veranlagte Menschen schafft, die neue Entdeckungen machen und Wege einschlagen, welche der Wissenschaft abhanden gekommen oder überhaupt stets unbekannt geblieben sind. Hieraus ergibt sich die Tatsache, daß durchaus nicht alles das, was unter Wissenschaft bekannt ist, solche ist. Ist eine Wissenschaft endlich rein und tadellos, so ist sie immer nur ein Stückwerk, weil es noch größere Gebiete gibt, die unerforscht daliegen, als die, welche schon erforscht sind. Daher liegt kein Grund vor, zu sagen, was nicht von der Hochschule herab gelehrt wird, ist nicht wissenschaftlich, oder, was noch närrischer klingt, was nicht auf den Universitäten bekannt ist, das besteht nicht. Noch weniger dürfen wir uns ein Recht anmaßen, über sogenannte Laienärzte oder Forscher verächtlich zu reden, denn wir wissen gar nicht, welche tatsächlichen Entdeckungen und wertvollen Wissensgebiete sich solchem Naturkinde eröffnet haben, durch welche es der Wissenschaft und damit der Menschheit einen tatsächlichen Dienst erweist, und man kann froh sein, wenn man dahinter kommt und die Entdeckungen den Hochschulen zugänglich gemacht werden. Ich unterscheide daher eine Wissenschaft der offiziellen Gelehrten und eine Wissenschaft der nichtoffiziellen Autodidakten; die letzteren sind oft die Quellen, durch welche den ersteren die Wahrheit zufließt. Wohl aber können auch die offiziellen Gelehrten zugleich Autodidakten und Entdecker sein, wie umgekehrt, Autodidakten offizielle Gelehrte werden können. Der medizinische Autodidakt HESSING wurde von der Regierung als Gelehrter anerkannt.

Nach diesen Betrachtungen möchte ich wieder zur Physiologie selbst zurückkommen. Da muß ich feststellen, daß mir in den Werken von Professor MÖBIUS in Leipzig, Professor ZIEHEN in Berlin, Professor G. von BUNGE in Basel, Professor WUNDT in Halle, Professor JÄGER in Stuttgart, Professor FOREL in Zürich, Professor MANTEGAZZA in Florenz, Professor LOMBROSO in Turin und Professor RICHET in Paris vortreffliche Bestebungen vorliegen, der Physiologie in Zukunft die Richtung zu geben, daß sie auch im synthetischen Sinne zur Lebenswissenschaft wird. Ich muß daher an dieser Stelle diesen Forschern meine ganz außerordentliche Wertschätzung und Sympathie aussprechen. Ich habe mit großer Freude von dem Inhalt ihrer Werke Kenntnis genommen. Die Psycho-Physiognomik lehnt sich daher an die Forschungsresultate dieser Meister vielfach an und geht mit ihnen parallel. Manche Erkenntnisse dieser Forscher sind direkte Grundlagen für die Hutersche Psycho-Physiognomik geworden.

Das System, wie ich Physiologie lehre, ist ebenfalls eine originale Arbeit, welche leicht faßlich und übersichtlich ist. Daneben sind aber auch zahlreiche Punkte betreffs der Materie dieser Wissenschaft selbst von neuen Gesichtspunkten beleuchtet. Es ist jedoch nur das Allernötigste zu bringen möglich.

Ich teile die Physiologie des Menschen in sechs Hauptgebiete ein, von denen jedes wieder in Unterabteilungen zerfällt:
I. Die Einzel-Organlehre,
II. Die Lebensmittellehre,
III. Die Lehre vom Verhältnis der einzelnen Organe zur Gesamtheit aller anderen Organe,
IV. Die Lehre von der Tätigkeit der Gesamtheit der Organe zu den einzelnen Organen,
V. Die Physiologie und ihre Beziehungen zur erklärlichen Psychologie,
VI. Die Physiologie und ihre Beziehungen zur Mystik oder zu den unerklärlichen Vorgängen des Seelenlebens und der sinnichen und übersinnlichen Dinge.


Vivisektion
(Überschrift hinzugefügt)
Bevor ich auch hierzu näher übergehe, muß ich noch einen Punkt erwähnen, der hart umstritten wird, nämlich die Vivisektion. Für den Fernstehenden erscheint es grausam, daß fortlaufend so und so viele Tiere der wissenschaftlichen Forschung zum Opfer fallen. Ich selbst war eine Zeitlang ein Gegner der Vivisektion, habe jedoch meine Haltung in dieser Hinsicht verschiedentlich angepaßt, nachdem ich kennen gelernt habe, welche Dienste große Physiologen der Wissenschaft vom Leben geleistet haben.

Freilich muß man sich fragen, geht denn der Weg zur Erkenntnis nicht anders als durch Schuld auch in diesen Dingen? Gewiß gibt es viele Wege, die nach Rom führen, ich meine zur Wahrheit. Aber es scheint fast, als wenn es einige unvermeidliche Wege gäbe, die nicht ohne schwere Opfer erkauft werden können, Opfer, die das Gewissen belasten und doch nicht vermieden werden können, um zur Quelle der Wahrheit zu gelangen. Das sind eben jene bedauerlichen Tieropfer, deren sich leider die Physiologen bedienen müssen und die unter dem Namen "Vivisektion" bekannt sind. Aber ich meine, es sollte denn doch alles ersonnen werden, um den Versuchstieren die Leiden zu ersparen. Man schränke doch tunlichst diese recht bedauerlichen Hilfsmittel ein! Ob man sie gänzlich beseitigen kann oder darf, ohne der physiologischen Forschung einen Nachteil zuzufügen, mag ich nicht wagen zu entscheiden, jedenfalls wären an erster Stelle auch die berufenen Fachleute darüber zu hören. Das aber steht fest, es geschieht nicht genug, um wenigstens die Vivisektion auf das allernotwendigste Maß einzuschränken. Ich glaube, insofern wird mir auch mancher Fachmann beistimmen können. Die Ausartungen der Vivisektion oder gar die ähnlichen Versuche an lebenden Menschen muß man aus ethischen Gewissensgründen unbedingt bekämpfen und zu beseitigen anstreben, denn bei ihnen ist kein wissenschaftliches Interesse mehr maßgebend, sondern ein moralisches, welches uns leiten soll. Alle Wissenschaft hat nach meiner Ansicht nur den Zweck, in dem Dienste des Guten zu stehen, andernfalls ist sie wertlos. Ja, Wissenschaft auf Kosten der Ethik und Ästhetik wird zur größten Gefahr für die Menschen, denn sie führt zu dem Inbegriff der mephistophelesschen Bildung und zieht einen Satangeist groß. Daher ist es wohl berechtigt, abzuwägen, wie weit wir Wissenschaft treiben dürfen, ohne die Menschenwürde zu verunglimpfen, ohne zu vergessen, daß wir noch höhere Aufgaben zu erfüllen haben als lediglich wissenschaftliche, nur um verstandesmäßige Begierden zu befriedigen. Diese Gewissensfrage sollte jeder Physiologe und Vivisektor bei sich immer empfindlicher machen, dann werden wir die Bürgschaft haben, daß kein unnötiges Blut vergossen wird.

Ich komme nun
I. zu der Organlehre
Hier müssen wir ganz den Weg gehen, den ich in der Anatomie vorgezeichnet habe. Ich will daher gleich auch
II. die Lebensmittellehre
der Einfachheit halber mitbehandeln.

Das Ernährungssystem hat die Aufgabe, uns mit allen seinen Apparaten und Organen richtig und gesund zu ernähren, folglich müssen wir die Ernährungsmittel selbst mit in Betracht ziehen. Wir sehen hierbei, daß die Physiologie sich ganz wesentlich von der Anatomie unterscheidet, indem sie sich mit um die Lebensmittel zu kümmern hat. Die Anatomie hat es aber ausschließlich nur mit den Organen zu tun.

Es bestehen nun selbstverständlich zwischen Lebensmitteln und Lebensorganen gegenseitige Wechselwirkungen, so daß unrichtige Lebensmittel die Organe zur Krankheit und Entartung führen können. Hierin zeigt nun meistens die normale Sinnestätigkeit dem Menschen den richtigen Weg, sein ihm eigenes Gefühl sagt ihm oft besser das Rechte, als es die  Wissenschaft selbst vermag.

Die Natur ist auch darin stets unsere Lehrmeisterin, und so hat sie in die Hände und Finger das feine Gefühl gelegt, in die Zunge den Geschmack, in die Nase den Geruch, so daß wir gleich fühlen, schmecken und riechen können, was der Ernährung zuträglich ist oder nicht. Außerdem leitet uns die natürliche Erfahrung, welche wir bei uns selbst und bei anderen machten, auf den rechten Weg. Die sogenannte wissenschaftliche Physiologie kann nur als Ergänzung dieser beiden natürlichen Wissenszweige des Menschen dienen und darf sich nie von ihr trennen, da ihr sonst das Beste selbst verloren gehen würde. Die wissenschaftliche Physiologie hat ferner die Aufgaben, alles systematisch zu ordnen und zu lehren. Daher ist für den wissenschaftlichen Physiologen die Mitarbeit der Volksinstinkte und Erfahrungen, also das, was die Volks-, Natur- und Sympathieärzte und Forscher stets an Erkenntnissen gesammelt haben und immer noch sammeln, nur zum Besten. Weit weniger ist der Anatom auf diese Volks- und Naturinstinkte angewiesen als gerade der Physiologe.

Die Erfahrung hat also gelehrt, daß, wer auf die Stimme der Natur hört, d.h. seine Sinnestätigkeit verfeinert und ihnen folgt, daß er sich dann auf dem rechten Wege befindet. Also gesunde Luft - nicht zu staubig, nicht zu trocken, nicht zu feucht, nicht zu kalt und nicht zu heiß - ist das richtige Nahrungsmittel für die Atmungsorgane. Der Wechsel von sehr kalter und warmer Luft führt zu Katarrhen und Erkrankungen der Lunge. Dasselbe ist  bei zu feuchter, bei zu trockener und bei zu unreiner Luft der Fall. Luft, die stark mit Miasmen durchsetzt ist, führt sogar zu Seuchen wie Cholera, Typhus, Pest, Stickhusten usw.

Es kann aber durch richtige Gewöhnung eines Organs an starke, abnorme Lebensmittel der Körper gegen Erkrankung immun gemacht werden. Hierbei spielt natürlich die eigene Seuchenfestigkeit selbst eine große Rolle. Also die persönliche Verfassung und Schutzwehrkraft des Körpers ist hierbei mit ausschlaggebend. So erklärt es sich, daß nicht jeder, der mit Pestkranken umgeht, die Pest bekommt, ebensowenig als nicht jeder, der Tuberkulöse oder Typhus- oder Cholerakranke behandelt, angesteckt wird.

Wichtig ist es nun, daß die Atmung selbst frei, also uneingeschnürt, unbeengt geschieht und daß die Atmung gepflegt werden muß, besonders bei solchen Personen, welche eine einseitige, vorherrschend sitzende Beschäftigung haben.

Wichtig ist auch zu wissen, daß die Haut ein- und ausatmet und eine gesunde Hautpflege daher zur Entlastung der Lunge führt. Wasser-, Licht-, Luft- und Sonnenbäder, sowie poröse und doch hinlänglich wärmende Kleidung machen gesundes Blut und bringen frohen Sinn und Lebensfreude.

Weniger leicht als die Atmung ist die Ernährungsfrage zu beantworten. Hier herrschen die widersprechendsten Anschauungen; Alkoholgegner und Vegetarier wollen in Bier, Fleisch und Wein schwere Lebensgifte erblicken, andere meinen, ohne diese Dinge nicht leben zu können. Noch andere können das eine tun und das andere lassen, ohne sich dabei etwas einzubilden oder zu glauben, sich dadurch einen Genuß zu entziehen.

Folgendes möchte ich aber nach meinen persönlich gemachten Erfahrungen darlegen:

Betrachten wir uns den Bau unserer Organe, so lehren sie uns, wie wir leben sollen. Wir haben die Lippen zum Saugen, die Zähne zum Kauen, den Gaumen zum Durchspeicheln, die Rachenorgane zum Schlucken. Das heißt, daß der Mensch nicht geschaffen ist, um große Mengen Flüssigkeiten in den Mund zu gießen und hinunter zu schlucken, sondern er soll die Aufnahme von Flüssigkeit sehr einschränken und sie möglichst in Form von saftigen Früchten genießen; genügt das aber nicht, den Durst zu stillen, so darf er nur sehr mäßig trinken und dabei mehr saugend, so ähnlich wie der Säugling die Mutterbrust genießt oder wie der Weinkenner die Wein-Blume mit Behagen schlürft.

Diese abnormen weichen Bäuche der modernen Kulturmenschen sind eine Folge von übermäßigem und unrichtigem Trinken. Die feste Speise soll für den Menschen nächst der einzuatmenden Luft die Hauptnahrung sein. Die flüssige Nahrung darf nur als mäßiges Zwischenglied betrachtet werden. Tüchtig ein- und ausatmen, mäßig essen, fein kauen, gut einspeicheln und recht mäßig trinken, das ist die Ernährungsregel, die uns unsere Organe lehren. Vieles Trinken, besonders auch der Genuß von zuviel Zucker oder stärkehaltigen Speisen, führen zu Zahnerkrankungen, Haarausfall, Hals- und Nasenleiden und im höheren Alter zu Ohren- und Augenleiden. Das Kauen fördert außerordentlich die Gehirnenergie. Die zappeligen nervösen Menschen und die, die an früher Gedächnisschwäche leiden, sind meistens -Ausnahmen nicht ausgeschlossen - keine richtigen Esser. Auch nimmt der moderne Mensch viel zu viel warme, gekochte Speisen und Getränke oder Suppen zu sich, wodurch eine Verweichlichung der Gefäßwandungen und frühzeitige Kraftlosigkeit eintritt.

Auch in den verschiedenen Lebensaltern hat sich der Mensch verschieden zu ernähren. Für die Jugend bis zum 25. oder 30. Jahre ist dem Menschen Alkohol in jeder Form nachteilig. Kinder brauchen das erste Jahr die Mutterbrust, das zweite gute Kuh- oder Ziegenmilch mit wenig eingeweichtem Weißbrot, auch weiche breiartige Speisen mit reichlichem Obstsaft.

Im dritten Jahre gebe man Brot, Obst, Milch und Ei, im vierten auch Grüngemüse und gemischtere Kost. Vom fünften Jahre ab soll ein Kind alles, was es gern ist, essen, mit Ausnahme der Zuckerwaren. Statt Zucker aber gebe man Honig und süße Früchte, statt Milch gebe man mehr gesundes Wasser. Schwere Kohlarten, Steckrüben und trockene Hülsenfrüchte sollten aber einem Kinde vor dem 10. Jahre nicht gegeben werden. Auch ist es empfehlenswert, bis dahin nicht nur reines Roggen-, sondern zur Abwechselung auch Weizen- oder Haferbrot essen zu lassen. Kaffee ist ein schädliches Getränk für Kinder. Nachteilig ist auch das späte Abendbrot kurz vor dem Schlafengehen. Abends kurz vor dem Schlafe und morgens gleich nach dem Aufstehen sind einige Schluck frischen Wassers das Gesündeste. Alle künstlichen Ersatzmittel, wie Lahmanns-Milch, Kneipp-Kaffee usw. sind höchst ungenügende Nährmittel, auch die künstlich gefärbten Limetta-Zuckergewässer sind wertlos. Kakao, besonders auch Tee, der auf heimischen Boden wächst, sowie Milch, Fruchtsaftlimonade und reines Wasser sind die besten Getränke. Betrachten wir nun den Bau des Darmkanals, so ist der Magen so eingerichtet, daß er Festes und Flüssiges aufnimmt und im gesunden Zustande derart scharfe Säuren entwickelt - vorausgesetzt, daß jemand genügend Obst und Rohkost genießt -, daß alle Bazillen im Magen vernichtet werden. Auch werden Cholerabazillen, wie Professor von PETTENKOFER bei sich selbst bewiesen hat, im Magen zerstört. Wer sehr mäßig Wasser trinkt, wird auch selten vom Typhus heimgesucht, da auch Typhusbazillen zerstört werden, wenn das Wasser in sehr geringen Mengen genossen wird, so daß die Magensäfte imstande sind, das Flüssige genügend zu durchziehen. Zusatz von Zitronensäure erhöht den Schutz. Verdächtiges Wasser meide man.

In dem Zwölffingerdarme, der unter dem Magen liegt, wird die Galle und die Flüssigkeit der Bauchspeicheldrüse eingeführt, wodurch abermals alles Schädliche des Speisebreies, bevor er in den Darm gelangt, vernichtet wird. Die Galle wird von der Leber zubereitet, wer also einen guten Magen, eine gute Leber und eine gesunde Bauchspeicheldrüse hat, ist gegen Darmbazillen gefeit, die Leben und Gesundheit bedrohen. Im Magen wird vorverdaut, im Zwölffingerdarm desgleichen, und im Dünn- und Grimmdarm spielt sich die Hautverdauung ab, besonders der flüssigen, der stickstoffhaltigen, also der eiweißhaltigen Nahrung, ferner der leichten Fette und Kohlenhydrate. Die schweren Fette und die Stärke werden besonders im Dickdarme gründlich nachverdaut. Wenn sich nun jemand einseitig ernährt, so werden gewisse Darmteile mit Arbeit überladen, andere zu wenig beschäftigt. Die Folge davon sind Unpäßlichkeit, Blähungen, Verstopfungen oder Durchfall, kurz, Verdauungs-störungen und im weiteren allerlei Krankheitserscheinungen. Es ist daher wichtig, außer Brot dem Körper genügend Fett, eiweißhaltige Substanz und Nährsalze zuzuführen. Letztere sind in den Obstfrüchten, besonders auch in den Hülsen der Körnerfrüchte und in den Grüngemüsen reichlich vorhanden. Die Frage, ob jemand ohne Alkohol und ohne Fleisch leben kann, muß man ohne weiteres bejahen. Jemand aber, dessen Vorfahren an den Genuß von Alkohol und Fleisch gewöhnt waren, kann man diese Genußmittel am besten in der Jugend entziehen. Bei manchen Rassen, wie den Indianern und Grönländern, kann man überhaupt das Fleisch gar nicht ohne Nachteile der Gesundheit verbieten. Demjenigen, der an Alkohol gewöhnt ist, dem darf man diesen nicht plötzlich, sondern nur sehr langsam abgewöhnen, um ihn zur Enthaltsamkeit zu führen, da mancher Körper gewöhnte Reize nicht gut entbehren kann, ohne dabei an Kollapszuständen zusammenzubrechen. Das ist beachtenswert bei Herz-, Hirn- und Rückenmarkskranken.

Leichte alkoholartige Getränke können aber im kräftigen reiferen Mannesalter durchaus vertragen werden, wenn sie sehr mäßig und nicht regelmäßig genossen werden. Gutes Bier, guter Wein, selbst guter Korn oder Likör können in geringen Mengen unter Umständen zur heilsamen Medizin, zur Verdauungsanregungs- und Lebensverlängerungsmittel werden. In heißen Zonen ist das natürlich anders. Da wird zur besseren Vorsicht Alkohol überhaupt gemieden.

Die Ursache, durch welche die Menschen zum Alkoholgenuß gekommen sind, liegt in der gesteigerten Gehirn-tätigkeit. Der Kulturmensch ist eben durch eine schnelle Gehirnentwicklung und Belastung zum Alkohol instinktiv getrieben worden. Auch körperliche Überanstrengungen haben den Menschen dahin geführt, desgleichen große Kälte, feuchtkalte Luft, Sorgen, Leid und Daseinskampf. Um sein physisches und geistiges Ich zu regeln, um sich bei geistiger und körperlicher Überarbeitung hochzuhalten, um sich eine frohe Stunde zu bereiten, das waren die Veranlassungen, die ihn zur Kornbrennerei, Bierbrauerei, zur Weinkelterei, zum Bier-, Wein- und Schnapsgenuß hingetrieben haben. Betrachten wir diese Ursachen und Gründe, so muß uns der Alkoholgenuß im milderen Lichte erscheinen. Das kann uns natürlich nicht abhalten, den Entartungen des Alkoholsgenusses, die sich besonders in Deutschland, Rußland, Holland, Frankreich und England eingebürgert haben, kraftvoll entgegenzutreten. Der Alkohol ist in der Tat eine Gefahr der weißen Rasse geworden. Sie, die weiße Rasse, hat wohl vielfach ihre gesteigerte schnelle Gehirn- und Geistesentwicklung dem mäßigen Alkoholgenuß mit zuverdanken. Diese Genüsse führen aber im Übermasse diese Rasse zu ihrem Verfall. Weniger gefährlich ist der Tabak, doch auch der Tabakgenuß ist zur widerlichen Männerseuche ausgeartet. Lieber ein Konzert zu 50 Pfennig hören, als 6 Zigarren rauchen! Lieber in die Kunstsammlungen, als in die Kneipen gehen, die Sorgen lieber durch Tanz, Zither und Gesang, als durch Alkohol vertreiben, das ist ganz gewiß eine bessere Volkssitte! Schließlich hilft gegen Überarbeitung, sei es körperliche oder geistige, am allerbesten Heliodisierung und Massage.

Der Regel nach beobachte man folgendes: Man genieße feste Kost ohne flüssige, und flüssige ohne feste, man wechsele zwischen warmen Speisen oder Getränken und nachfolgenden mildkühlen ab. Eisiges und Heißes ist zu meiden, so erhält man gesunde Instinkte für das, was in der Ernährung bekömmlich ist, und hat man die erlangt, dann lasse man sich von ihnen leiten, sie führen den Menschen, wie sie jedes Tier führen, auf den rechten Wegen der naturgemäßen und gesunden Ernährung. Auf individuelle Ernährung komme ich bei der Naturellehre im fünften Lehrbriefe näher zurück.


Ich komme nun zum Bewegungssystem

Die Arme, Hände, Beine und Füße sind dazu da, um sie und uns zu bewegen. Das sagen uns die Glieder. Was die Natur geschaffen hat, soll zu dem Zwecke, wozu es geschaffen ist, auch kraftvoll gebraucht werden, das ist ein allgemein anerkanntes physiologisches Grundgesetz. Aber jeder anstrengenden Tätigkeit muß eine Ausspannungs- oder Ruhepause folgen.

Außer bei Verwundungen, Fieber und sonstigen Leidenszuständen soll der Körper täglich allseitige Bewegungen haben. Dieses wird am geeignetsten in freier Natur möglich sein. Demnach ist Garten-, Feld- und Waldarbeit die gesündeste, und an diese Tätigkeit sollten sich Fußreisen und Bewegungsspiele anschließen. Nur so können die Bewegungsorgane zur vollen Entwicklung gelangen, und nur so kann der Körper gesund bleiben. Beachtet werden sollte hierbei, daß das weibliche Geschlecht mehr für Hand- und Armarbeit, weniger für große Fußreisen oder anstrengendste Schulter- und Oberarmtätigkeit geschaffen ist. Die schwere Körperarbeit hat daher der Mann zu übernehmen. Für den Kaufmann, Beamten, Gelehrten, Künstler, für den Fabrik- und manchen Hand-werkerarbeiter ist meistens keine genügende allseitige Körperbewegung durch den Beruf gegeben, daher sollten sich Personen solcher Berufe einem  Turn- oder Touristenvereine anschließen. Ohne genügende Bewegung entwickelt sich Herzschwäche, frühes Altern und körperlicher Verfall.

Levitating Stone
(Hinzugefügt)
Jedem zum Erfolg in praktischer Menschenkenntnis zu verhelfen, dazu soll dieses Lehrwerk besondere Dienste erweisen.



Erstellt 1994. Update 26. März 2007.
© Medical-Manager Wolfgang Timm
Fortsetzung
Hauptwerk. 2. Auflage. 1929. Hrsg. Amandus Kupfer

Die  Kronen symbolisieren die höhere Natur in jedem Menschen, sein individueller potentieller innerer Adel. Jedermann ist verpflichtet seinen inneren Adel nach Albrecht Dürer und Carl Huter zu heben.
Hauptwerk - Lehrbrief 4 (von 5)
 
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